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Sport: Die Wahrheit der Berge

Ullrich, Mayo, Hamilton – Armstrongs Herausforderer sind entweder zurückgefallen oder ausgestiegen

Es war ein merkwürdiger Anblick, wie sich Jan Ullrich am Samstag abgehängt und ohne Helfer alleine durch die Massen baskischer Fans die 16 Kilometer zum Plateau de Beille hinaufkämpfte. Wissend, dass sich das Rennen um den Tour-Sieg gerade weiter oben in den Pyrenäen zwischen Lance Armstrong und Ivan Basso abspielte – und gleichermaßen gegen die Resignation ankämpfend, wie gegen Beine, die einfach nicht mehr hergeben wollten.

Immerhin, Jan Ullrich war nicht der einzige Favorit, dessen große Ambitionen auf den Landstraßen der Gascogne verloren gingen. Keiner der Männer, die ausgezogen waren, Armstrong das Fürchten zu lehren, sind nach diesem Wochenende noch im Rennen. Heimar Zubeldia, Iban Mayo, Tyler Hamilton, Dennis Mentschow, Roberto Heras – sie fielen in den Pyrenäen weit zurück oder stiegen gleich ab. „Es ist verrückt“, sagte Lance Armstrong – der einzige Favorit, der die Erwartungen bisher erfüllt hat. „Wir schauen uns abends das Rennen an und müssen jeden Tag Namen von der Liste derjenigen streichen, auf die wir achten.“

Den Reigen der Aufgaben eröffnete am Samstag Heimar Zubeldia, der Tour-Fünfte des Vorjahres. 19 Kilometer nach dem Start in Lannemezan übergab er seinem Mannschaftsmechaniker sein Rad und setzte seine Etappe im Auto fort: „Es hat keinen Sinn mehr, mein Knie tut so weh, dass ich hier nichts ausrichten kann.“ Somit starb die erste große Hoffnung der baskischen Fans, die an die Berghänge gekommen waren, um ihre Fahrer in den orangefarbenen Trikots der baskischen Mannschaft Euskaltel zu bejubeln. Nicht viel später starb die zweite baskische Hoffnung. Iban Mayo, der Sieger von Alpe d’Huez im vergangenen Jahr, schob frustriert sein Rad an den Straßenrand. „Es ist furchtbar, weil ich von meinem Sturz in Nordfrankreich eigentlich keine körperlichen Blessuren davongetragen habe. Aber meine Beine springen einfach nicht an. Ich dachte, es sei besser aufzugeben.“ Doch nachdem Zubeldia schon im Auto saß, wollten die Basken nicht auch noch ihren zweiten Chef verlieren und überredeten ihn weiter zu fahren. Mit 37 Minuten Verspätung quälte er sich die Passhöhe am Plateau de Beille hinauf und entschuldigte sich danach: „Es tut mir Leid für alle Basken, die an mich geglaubt hatten.“

In den ersten Serpentinen hinauf zum Col de la Core, dem ersten Anstieg des Tages, erwischte es Tyler Hamilton. Anders als bei Mayo musste Hamiltons Team den Mann aus Massachussetts überreden, nicht weiter zu fahren. „Tyler, denke ausnahmsweise einmal an deine Gesundheit anstatt an die Mannschaft“, redete Alvaro Pino, Sportlicher Leiter bei Phonak, auf den Amerikaner ein, der noch nie eine Rundfahrt aufgegeben hatte – nicht, als er sich beim Giro d’Italia 2001 das Schulterblatt gebrochen hatte und auch nicht, nachdem er sich auf der ersten Etappe der vergangenen Tour das Schlüsselbein brach. Diesmal ließ sich Hamilton überzeugen. Schon seit einer Woche plagten ihn nach einem Sturz starke Rückenschmerzen. „Mit den Schmerzen kann ich umgehen“, sagte Hamilton. „Das Problem ist, dass ich keine Kraft im Rücken habe. Und wenn man am Berg keine Kraft im Rücken hat, ist man nutzlos.“

Nutzlos waren am Samstag auch Denis Mentschow und Roberto Heras. Mentschow, bester Jungprofi und Elfter des Vorjahres, gab mit Beschwerden an der Achillessehne auf. Heras stürzte zunächst und verlor dann 21 Minuten. Eine überzeugende Erklärung scheint es für das Favoritensterben auf den ersten beiden Bergetappen der Tour nicht zu geben. T-Mobile-Teamchef Walter Godefroot und Lance Armstrong waren sich auf Anfrage in ihrer Verwunderung einig: „Ich verstehe das nicht“, sagten beide. Georg Totschnig vom Team Gerolsteiner, einer der Männer, die sich nach dem Ausscheiden der großen Namen in den Vordergrund schieben, glaubt an eine zufällige Gleichzeitigkeit von Einzelschicksalen: „Jeder Einzelne hat einen anderen Grund, ein anderes Problem.“ Probleme, die sich auf den Flachetappen noch kaschieren ließen. Das Hochgebirge aber bringt alles ans Tageslicht.

Sebastian Moll[Nîmes]

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