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Sport: Die Würde des Weltmeisters

Italien verteidigt vollendet schön – und kann den Ruhm gut gebrauchen

Berlin - Am schönsten ist immer die Vorfreude, das ist beim Kindergeburtstag nicht anders als beim Finale um die Fußball-Weltmeisterschaft. Der goldene Pokal steht auf einem sehr weißen, sehr modernen und sehr hässlichen Podest. Die großen Jungs in den blauen Leibchen stehen im Halbkreis um ihn herum, sie küssen und streicheln ihn, und der größte von allen, der Verteidiger Marco Materazzi, setzt ihm einen grün-weiß-roten Hut auf. Jetzt wird es Lennart Johansson zu bunt. Ein bisschen mehr Würde, meine Herren, so ungefähr lässt sich sein Blick deuten. Der Präsident des Europäischen Fußballverbands nimmt den Pokal vom Podest und gibt ihn weiter an Horst Köhler. Der Bundespräsident aber darf ihn nur ganz kurz halten, dann muss er ihn schon weitergeben an den Kleinsten der großen Jungs. Fabio Cannavaro reckt ihn in die Luft, zweimal, dreimal, viermal, Konfetti versilbert den Rasen des Olympiastadions, und jetzt, endlich, können sie es der Welt mitteilen: Italien ist Weltmeister!

In diesen beschwingten Minuten des ausklingenden Sonntags vergessen die Italiener, dass die Zuschauer im Berliner Olympiastadion nicht immer auf der Höhe eines WM-Finales waren. Viele, zu viele haben „Deutschland, Deutschland“ gesungen und die Italiener ausgepfiffen, als vermeintliche Provokateure beschimpft nach der Roten Karte gegen Zinédine Zidane. Für einen Augenblick scheint die Würde des großen Augenblicks gefährdet, doch nachdem Fabio Grosso den letzten Elfmeter verwandelt hat, besinnt sich das Publikum und feiert den neuen Weltmeister. „Die Leute, die uns ausgepfiffen haben, werden das überdenken, wenn sie die Fernsehbilder sehen“, sagt Italiens Trainer Marcello Lippi.

Lippi feiert auch ein bisschen mit, aber dann lässt er sich zu einem unerhörten Regelbruch hinreißen. Noch auf dem Rasen zündet sich der italienische Trainer einen Zigarillo an, das wird Ärgergeben mit der Disziplinarkommission der Fifa. Signore Lippi aber schwebt in dieser Stunde vor Mitternacht ohnehin in anderen Sphären. Lippi hat sich ein weißes Badetuch über die Schultern gelegt und flaniert über den Platz. Mit den Händen in den Hosentaschen erinnert er an Franz Beckenbauer, der vor 16 Jahren ähnlich entrückt den deutschen WM-Sieg in Rom beging. Rings um Lippi geht die Party weiter. Der zarte Alessandro Del Piero trägt den bulligen Gennaro Gattuso huckepack, Francesco Totti hat sich sein Trikot über den Kopf gezogen, er greift sich den Pokal und trägt ihn in die Kurve zu den Fans. Später wird Lippi eine Rede über seine Spieler halten, es ist eine kleine Liebeserklärung: „Ihr Charakter, ihr Herz und ihr Wille sind einmalig.“

Er muss nichts sagen zu sich selbst, zu seiner eigenen Leistung. Sie spricht für sich. Sein Vorgänger Giovanni Trapattoni ist mit annähernd denselben Spielern zweimal in Folge bei großen Turnieren kläglich gescheitert. Lippi hat nicht nur unter denkbar schwierigen Umständen eine große Mannschaft geformt. Seine große Leistung ist der Welt zu zeigen, dass defensiv geprägter Fußball auch schön sein kann. Hat man je Verteidiger so vollendet spielen sehen wie den kleinen Cannavaro, gerade 174 Zentimeter groß? Einen, der kaum Foul spielt, bei dem jeder Pass ankommt, der keinen Zweikampf verliert, dessen spärlich eingesetzte Grätschen immer den Ball treffen? „Fabio ist für mich der beste Spieler der Welt“, sagt Lippi.

Die italienischen Reporter lassen in den Katakomben des Olympiastadions alle lästige Distanz fallen, sie klatschen ihre Spieler ab, sie hüpfen und singen: „Siamo Campioni del Mondo“. Die neue Wertschätzung tut den Spielern gut in Zeiten, da sie in den Gazzettas und Corrieres immer wieder von anderen Dingen lesen mussten, von Manipulation und Bestechung und Zwangsabstieg. „Dieser Sieg wird in die Geschichte eingehen und hoffentlich zu Hause einiges relativieren“, sagt Francesco Totti. Auch Marcello Lippi wägt seine Worte genau ab. Es hat ihn schwer getroffen, dass auch sein Name in den Strudel des Skandals geworfen wurde. Im Raum steht die dubiose Anschuldigung, der Nationaltrainer habe bevorzugt Spieler aufgestellt, die von einer bestimmten Agentur beraten wurden. Lippi hat das nicht vergessen und formuliert im Ton eines Staatsmannes: „Ich bin glücklich, dass wir unserem Land eine große Freude bereitet haben zu einem Zeitpunkt, an dem es so dringend nötig war.“

Zwei Stunden feiern die Italiener in Berlin, dann ist es genug, in Tegel wartet das Flugzeug, mit dem es über Düsseldorf zurück nach Duisburg geht. Es ist kurz vor vier, als der Mannschaftsbus das Hotel Milser erreicht. Gut 3000 Tifosi warten, sie haben hier das Spiel verfolgt und ausgeharrt. Die Spieler lassen sich feiern, später ziehen sie sich mit ihren Frauen, Freundinnen und Kindern auf die Terrasse zurück. Bei Wein und Antipasti klingt die private Siegesparty gegen sieben Uhr aus.

Am Montagnachmittag fliegt die italienische Delegation zurück nach Rom, beseelt vom Glück über das Erreichte, aber auch von der Sorge um die Zukunft. Wie schwer fällt die Rückkehr in die Realität? Marcello Lippi versteht die Frage nicht. „Ist das hier etwa nicht Realität? Wir sind Weltmeister, das ist meine Realität.“

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