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Sport: Ein Gigant entdeckt sich

Glückselige Türken sehen sich jetzt als Großmacht

Sogar die Schiffe auf dem Bosporus feierten mit. Als der türkische Torwart Rüstü Recber am Freitagabend in Wien den entscheidenden Elfmeter im Spiel gegen Kroatien hielt, war es in Istanbul schon längst nach Mitternacht. Doch ans Schlafen dachte in der Türkei kaum jemand. Ein tausendfacher Jubelschrei drang aus den offenen Fenstern der Häuser, die Nebelhörner der Schiffe dröhnten, Böller und Feuerwerkskörper stiegen in den dunklen Himmel, überall im Land feierten die Türken bis in den Morgen. Und natürlich schossen wieder einige trotz aller Verbote mit scharfen Waffen in die Luft – Querschläger töteten eine Frau und verletzten 23 weitere Menschen.

Für Fatih Terim war der Einzug ins Halbfinale der EM eine große Genugtuung. Der türkische Trainer, vor kurzem noch wegen angeblicher taktischer Fehler in der Presse scharf angegriffen, sieht sein Team nun sogar schon in einer Reihe mit den traditionellen Fußball-Großmächten. „Das Halbfinale gegen Deutschland wird zum Kampf der Giganten“, verkündete er.

Die Tatsache, dass die Türken nun schon zum dritten Mal bei dieser Europameisterschaft in den letzten Minuten den Sieg erkämpft hatten, müsse inzwischen jedem Gegner zu denken geben, sagte Terim. Auch die Zeitungen feierten den Kampfgeist der Mannschaft. „Wir produzieren Wunder“, lautete die Schlagzeile der „Sabah“. Von „Helden“ war in der Presse die Rede und selbstverständlich, darunter macht man es wohl nicht, von einer „neuen türkischen Belagerung von Wien“.

Sportkolumnist Erman Toroglu beschrieb in der „Hürriyet“ eine Szene, die seiner Meinung nach das Wesen der türkischen Elf auf den Punkt brachte: „Als wir das Gegentor kassierten, ließen sich drei unserer Spieler im Strafraum verzweifelt auf den Boden fallen. Die Zeit verrann. Zwei Mannschaftskameraden gingen auf die am Boden liegenden Spieler zu, um zu sagen: ,Steht auf, marschiert weiter.‘ Sie standen auf, sie marschierten, und sie beendeten die Sache.“

Stürmer Semih Sentürk, der mit seinem späten Ausgleichstor den Sieg im Elfmeterschießen ermöglicht hatte, sprach sogar von einer Hilfe höherer Mächte: „Das Tor war ein völliges Wunder. Ich schoss mit der Kraft, die Allah mir gab.“

Doch es gab auch selbstkritische Stimmen. „Das Glück war auf unserer Seite“, sagte ein übernächtigter Mann in Istanbul am Samstagmorgen. Und der frühere Nationalspieler Sergen Yalcin schrieb in der Zeitung „Vatan“: „Ich will ja nicht demagogisch sein, aber Fußball gespielt haben wir eigentlich nicht.“

Egal. „Wir sind sehr glücklich“, sagte Ministerpräsident Recep Erdogan, der das Spiel im Stadion verfolgt hatte. „Unglaublich.“ In der Hauptstadt Ankara streifte sich auch Generalstabschef Yasar Büyükanit ein Nationaltrikot über die Uniform. Angesichts der politischen Spannungen sind die unerwarteten Erfolge Balsam für die türkische Seele und eine willkommene Ablenkung von den Problemen im Staat. Das weiß auch Erdogan: „Diesen Sieg hat unser Land gebraucht.“

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