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Leidenschaft fürs Bahnfahren.

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Traum erfüllt nach Nahtoderfahrung: Ein Herzschlag im Takt der Bahn

Ein schwerer Unfall stoppt den Lokführer Willi Struwe kurz vor der Jungfernfahrt – mit Hilfe der DGUV schafft er es dennoch auf den Führerstand.

Von Lennart Glaser

An dieser Stelle berichtete das Team der Paralympics Zeitung, ein Projekt von Tagesspiegel und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Alle Texte zu den Spielen rund um Peking finden Sie hier. Aktuelles finden Sie auf den Social Media Kanälen der Paralympics Zeitung auf Twitter, Instagram und Facebook.

Diese Hiobsbotschaft nahm er auch noch lachend hin. Just in dem Moment, als Willi Struwe zum vereinbarten Interviewtermin kommt, leuchtet das Display seines Handys rot. Der PCR-Test, den er extra noch gemacht hat, ist positiv – zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Struwe steht kurz vor seinem Urlaub, die Tickets, das Visum, alles liegt schon bereit. Stattdessen: Quarantäne. „Dafür kann ich jetzt morgen ausschlafen“, lacht er. Und fügt dann etwas ernster hinzu: „Ich habe gelernt, mit solchen Situationen umzugehen.“

Neun Jahre ist der schwere Unfall des 29-jährigen Lokführers inzwischen her. „Gebt mir zwei Gehstöcke“, soll er direkt nach seiner Oberschenkelamputation zu seinen Vorgesetzten gesagt haben, „und ich klettere wieder in den Führerstand.“

Es war der 20. März 2013, als Willi Struwe im Betriebsbahnhof Lichtenberg seine Frühschicht beginnt. Er ist damals 20, ein ausgelernter Lokführer mit Eisenbahner-Herz. An diesem eisigen Morgen ist er als Rangierer eingeteilt, Wagen an- und abkoppeln, alles vorbereiten für den großen Betrieb, der Menschen und Orte verbindet.

Schon lange träumte er selbst davon, oben in der Lok zu sitzen. Als er früher mit dem Zug zu den Großeltern nach Stralsund gefahren sei, musste er in dem Kopfbahnhof zwangsläufig an der großen Lok vorbei. Angsteinflößend sei das gewesen, aber faszinierend. Er habe gewusst: Eines Tages bin ich derjenige, der dieses Monster bewegt.

Im Frühjahr 2013 ist seine Jungfernfahrt zum Greifen nah. Drei Wochen noch Züge koppeln, rangieren, sich in der Dunkelheit schmutzig machen und frieren, um dann, an seinem 21. Geburtstag den Logenplatz zu besteigen und dem Sonnenaufgang entgegen zu fahren. Mit dieser Motivation fährt er jeden Tag zum Betriebsbahnhof, auch am 20. März.

Die Notärztin gibt ihm eine Spritze, dann wird es still

Doch dann rutscht er aus. Den Zug hat er noch selbst über einen Notschalter gestoppt, erzählt man ihm später, das ergab die Auswertung der Geräte. Das Trittbrett, auf dem er gestanden hatte, sei wohl vereist gewesen sein, vermutet Struwe heute, der erste Wagen hinter der Lok überrollt sein rechtes Bein. Als ihn die Leitstelle über Funk informiert, dass ein Krankenwagen unterwegs sei, ist es ihm unglaublich peinlich, dass seinetwegen der Betrieb gestoppt werden muss, dass alle in heller Aufregung sind. Kalt sei es gewesen, ein Kollege wickelt ihm extra noch seine Jacke um. Die Notärztin gibt ihm eine Spritze, dann wird es still.

„Voll ärgerlich, eigentlich“, sagt Willi Struwe heute, wenn er daran denkt, wie kurz er damals vor seinem Ziel stand. Dass sein rechtes Bein nicht mehr zu retten war, sei für ihn kein Schock gewesen, dafür habe er zu viel unter dem Einfluss von Narkosemitteln gestanden. Vielleicht hat er auch deshalb nie ans Aufgeben gedacht. „Mein Gedanke war eher: Jetzt ist die Situation da, du kannst sie nicht ändern und jetzt musst du damit fertig werden.“ Und dann trifft Willi Struwe eine Entscheidung, die er als Kind schon mal getroffen hatte: Ich will Lokführer werden.

Es folgt eine Odyssee. Drei Monate liegt er stationär im Krankenhaus und wird drei Mal operiert. Das Bein muss heilen, der Stumpf geformt werden, damit eine Prothese angepasst werden kann. Das Laufen lernen dauert acht Monate. Ziemlich ätzend, beschreibt er: „Das ist, als wenn man ewig lang kein Fahrrad mehr gefahren ist. Da tut der Hintern unglaublich weh. Mein Oberschenkel musste die Belastung auch erst wieder lernen.“

Sein Arbeitgeber steht Willi Struwe von Anfang an zur Seite. Die Bahn unterstützt ihn ebenso wie die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV). Es wäre leichter gewesen, ihn umzuschulen, vor allem billiger. Fahrpläne hätte er schreiben können, Karriere am Schreibtisch machen. Doch als er seinen Wunsch formuliert, auf den Führerstand zurückzukehren, lenkt die DGUV direkt ein. Kein Wunder: „Herr Struwe hatte klare Vorstellungen davon, wie es für ihn weitergehen soll – und durch seine positive Art hat er alle Beteiligten ein Stück weit mitgerissen“, erinnert sich Reha-Manager Torben Ferbeck, der für ihn zuständig war.

Auch der Sport hilft Struwe in dieser Zeit

Struwe kämpft sich durch eine intensive Reha und will so schnell wie möglich zurück in den Job – aus ganz pragmatischen Gründen: „Wir haben Führerscheine, die nach einem Jahr ablaufen, wenn man nicht eine Mindestanzahl an Schichten gefahren ist. Das wollte ich unbedingt vermeiden.“

Auch der Sport hilft ihm in dieser Zeit. Durch einen Zufall kommt er zum Para-Eishockey, wird Bundesligaspieler, trainiert mit der Nationalmannschaft. Für Struwe kaum der Rede wert. „Ich habe eine Nahtoderfahrung gemacht und weiß dadurch, dass manche Dinge gar nicht wichtig sind“, sagt er: „Wenn man Leute um sich hat, die einen so viel vergessen lassen, merkt man, was wirklich wichtig ist im Leben.“

Rund ein Jahr nach seinem Unfall stieg Willi Struwe wieder in den Zug.
Rund ein Jahr nach seinem Unfall stieg Willi Struwe wieder in den Zug.

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Für Willi Struwe endet die bahnlose Zeit am 9. März 2014, als er sich in den Triebwagen des kleinen Bummelzugs setzt. Er erinnert sich genau. Nach Stralsund wäre er gerne gefahren. Stattdessen leuchtet „RB55 nach Kremmen“ in der Dunkelheit. Ein Grinsen huscht über sein Gesicht.

„Für mich ist wichtig, am Ende zu erkennen, wofür das Herz schlägt“, sagt er heute: „Und mein Herz schlägt im Takt der Bahn.“ Er erzählt von winkenden Kindern an Bahnübergängen, seinen kleinen Fans. Dann hupt Struwe und winkt zurück. „Ich hoffe dann immer, dass eines der Kinder vielleicht später auch Lokführer wird. So wie ich.“

Dann schaltet der Fahrtanzeiger um. Willi Struwe atmet durch und löst die Bremsen. Dann steuert er das Monster dem Morgen entgegen.

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