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Sport: Ein Land, ein Rennen

Der Melbourne Cup ist den Australiern heilig – dann wird auf die Pferde gewettet, alles andere ist egal

Wenn jemals ein Außerirdischer aus seinem Ufo am ersten Dienstag im November um 15.10 Uhr auf Australien schauen sollte, würde er sich vermutlich verwirrt seine Tentakeln reiben: Wo sonst in den großen Städten des Fünften Kontinents geschäftiges Treiben herrscht, kehrt plötzlich Ruhe ein. Die Autos fahren nicht, die Kinder verschwinden von den Spielplätzen, selbst die Kängurus scheinen weniger zu hüpfen. Und wenn unser Außerirdischer dann einen Australier fragen könnte, was denn da los sei, würde dieser mit einem gewissen Anflug von Verständnislosigkeit grummeln: „Melbourne Cup“. Dann würde er sich wieder dem Rennen zuwenden, das in diesem Land so bezeichnet wird: „The race that stops a nation.“

Gestern war es wieder soweit. Über 120 000 Besucher auf der Rennbahn in Flemington und Millionen an den Fernsehschirmen verfolgten das Rennen über 3,2 Kilometer. Sogar der Börsenumsatz sinkt an diesem Tag drastisch, weil die Händler lieber auf die Vierbeiner, als auf Aktien setzen. Seit 1861 wird der Cup ausgetragen, jetzt wurde wieder ein Stückchen Geschichte neu geschrieben. Makybe Diva gewann als erste Stute und als viertes Pferd überhaupt zum zweiten Mal hintereinander. Im Ziel hatte sie einen klaren Vorsprung vor dem irischen Steher Vinnie Roe und dem Außenseiter Zazzman. Allein der Name des Pferdes ist schon eine Geschichte für sich. Ihr Besitzer, Thunfischexporteur Tony Santic, benannte das Pferd nach seinen Büromitarbeiterinnen Maureen, Kylie, Belinda, Diane, Vanessa. Der Jockey der Stute, der auf den schönen Namen Glen Boss hört, ernannte das Pferd umgehend mit Tränen erstickter Stimme zur „Legende“ und schluchzte: „Ich bin nur der Glückspilz, der obendrauf sitzt.“ Umgerechnet 1,65 Millionen Euro Preisgeld gingen an den Sieger, insgesamt war das Rennen mit 2,7 Millionen Euro dotiert.

Die Historie des Cups, bei dem es immer schon um viel mehr ging als um viel Geld und ein Pferderennen, strotzt nur so von Triumph und Tragik. Es gab Sieger, die Tausende von Kilometern bis zum Start gelaufen waren, noch vor wenigen Jahren kam eine Besitzerin aus dem 3000 Kilometer entfernten Darwin per Auto, weil ihr das Flugticket zu teuer war. Nach dem Sieg ihres Pferdes kehrte sie als Millionärin heim. Ein 13-jähriger Jockey hatte nicht einmal einen Nachnamen, weil er als Waise aufgewachsen war. Kurzerhand benannte man ihn nach dem Stall des Trainers, und er ging 1876 als Peter St. Alban in die Siegerliste ein. Das berühmteste Siegerpferd ist immer noch Phar Lap, das 1930 gewann und noch heute die Massen fasziniert.

Seine ausgestopfte Hülle zieht im Melbourne-Museum noch heute mehr Besucher an, als jedes andere Ausstellungsstück in irgendeinem anderen Museum Australiens. Phar Laps Herz wird in der Hauptstadt Canberra aufbewahrt, sein Skelett in seinem Geburtsland Neuseeland. „Ein Herz wie Phar Lap“ haben, bedeutet noch heute, ein besonders großes Herz haben.

Der Melbourne Cup ist ein Handicaprennen, je nach Güte der Pferde müssen sie unterschiedlich viel Gewicht tragen. Dies entspricht dem Nationalcharakter der Australier. „To give everyone a fair go“ - jedem eine Chance geben - ist die Idealvorstellung der Menschen, die zwar im richtigen Leben nur selten umgesetzt wird, aber beim Melbourne Cup durchaus noch Bedeutung hat, wo Millionenpferde neben anderen starten, die für eine Flasche Whiskey den Besitzer gewechselt haben. Dass – wie gestern geschehen – die beiden Topfavoriten tatsächlich als Nummer eins und zwei im Ziel ankommen, ist extrem selten.

Dieser Glücksfaktor macht das Rennen vor allem bei den Gelegenheitswettern so beliebt. Der Gang zum Buchmacher gehört am Melbourne Cup Day, der übrigens in Melbourne selbst ein offizieller Feiertag ist, zum Ritual. Umgerechnet fast 75 Millionen Euro wurden in diesem Jahr gesetzt, und das ist nur die Summe, die offiziell über die Tresen ging.

Wenn unser Außerirdischer auf seiner Reise durch die Sonnensysteme übrigens schon 1893 in Melbourne angekommen wäre, hätte er auch einen Auswärtigen nach der Wichtigkeit des Rennens befragen können. Dieser schnauzbärtige Amerikaner namens Mark Twain hätte ihm entschieden gesagt, was er später in einem Zeitungsartikel schrieb: „Die Wichtigkeit des Melbourne Cups für Australien kann nicht übertrieben werden.“

Alexander Hofmann[Melbourne]

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