zum Hauptinhalt

Sport: Eine schrecklich defensive Familie

Die Letten haben kaum eine Chance mehr auf das Viertelfinale, aber sie können die Deutschen noch ärgern

Fußballer haben gelegentlich einen Hang zu pathetischen Übertreibungen. Sie sprechen dann von den elf Freunden, vom überragenden Mannschaftsgeist und einem außergewöhnlichen Zusammengehörigkeitsgefühl, wo es doch meist nur um eine berufliche Zweckgemeinschaft geht. Aleksandrs Starkovs, der lettische Nationaltrainer, sagt über seine Mannschaft: „Wir sind eine Familie.“ Pathetischer geht es nicht.

Als die lettischen Spieler vor vier Tagen, bei ihrem ersten EM-Spiel gegen Tschechien, nach der Pause aus der Kabine zurückkehrten, blieben sie zunächst an der Seitenlinie stehen. Erst als alle Brüder versammelt waren, ging die Familie aufs Feld. „Ihre Körpersprache zeigt, dass sie zusammengehören“, sagt Deutschlands Teamchef Rudi Völler, dessen Mannschaft heute auf die Letten trifft.

Nach dem 1:2 gegen Tschechien haben die Letten zwar kaum noch eine Chance auf das Viertelfinale, sind aber sehr wohl in der Lage, ihre beiden Gruppengegner Deutschland und Holland zu ärgern. Der Fußball, den sie spielen, ist ein Spielverderber-Fußball, ihr Stil leidenschaftlich und athletisch, im Zweifel aber immer defensiv. Nur nach der Balleroberung verfolgt die Mannschaft ein rasantes Konterspiel über ihre Offensivkräfte Rubins, Prohornkovs und Verpakovskis. „Wir spielen bei der EM gegen große Mannschaften“, sagt Verteidiger Igors Stepanovs. „Du musst zeigen, wie gut du bist.“

Die Qualität hat jedenfalls gereicht, um gegen die Tschechen 45 Minuten lang zu null zu spielen, in der Nachspielzeit der ersten Hälfte in Führung zu gehen und dann fast 30 Minuten den Vorsprung erfolgreich zu verteidigen. „Es gibt kein Rezept gegen die Letten“, sagt der tschechische Spielmacher Tomas Rosicky. „Die stehen hinten wie eine Mauer.“ Das 4-4-2-System der Letten existiert nur als theoretische Größe. In Wirklichkeit ist es ein 7-1-2. „Jeder spielt mit den Karten, die er hat“, sagt Trainer Starkovs, ein Anhänger des italienischen Fußballs. Er schätzt dessen spielerische Verbindung von Athletik, Technik und Disziplin.

Karel Brückner, der tschechische Trainer, bescheinigte den Letten eine „beinahe militärische Disziplin“. In solchen Aussagen schwingen die Assoziationen vom freudlosen Funktionieren realsozialistischer Roboterteams mit, in denen der Einzelne nicht mehr sein darf als ein Rädchen im System. Starkovs ist zwar im sowjetischen System sozialisiert worden – seine Idee vom Fußball aber ist nicht ideologisch begründet, sondern folgt in erster Linie dem Prinzip der Machbarkeit.

Mit diesem Prinzip hat Starkovs die Letten, die vor drei Jahren nicht einmal gegen San Marino gewinnen konnten, schon weit gebracht: In der Qualifikation zur EM haben sie die WM-Teilnehmer Polen und Türkei ausgeschaltet. Trotzdem hatte Starkovs vor dem Turnier „ein bisschen Angst, dass wir auf diesem hohen Niveau nicht mithalten können“. Die knappe Niederlage gegen Tschechien hat ihn vom Gegenteil überzeugt, „sie hat uns noch mehr Vertrauen gegeben“, sagt der lettische Trainer.

Rudi Völler sagt über den heutigen Gegner: „Man darf sich nicht von der Unbekanntheit der Namen täuschen lassen. Die Letten sind fest von sich überzeugt.“ Außerdem stellt sich die Konstellation in der Gruppe D inzwischen so dar, dass wohl schon ein Remis gegen den Außenseiter das Ausscheiden in der Vorrunde zur Folge hätte. Die deutsche Mannschaft steht unter dem Zwang zum Gewinnen. Den Letten kann das nur recht sein.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false