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© de Nijs/Spaarnestad Photo/laif

Sport: Eisiges Fieber

Jeden Winter hoffen die Niederländer auf bitteren Frost, damit das legendäre Eisschnelllaufrennen Elfstedentocht stattfinden kann.

Vielleicht wird es im Januar so weit sein, schon in wenigen Wochen. Vielleicht aber auch erst im Februar. Möglicherweise in diesem Winter, endlich wieder einmal. Falls nicht, dann hoffentlich im nächsten.

Oder doch nie mehr?

Zur kalten Jahreszeit werden die Niederlande stets von einem eisigen Fieber gepackt, eine ganze Nation stellt sich zwei Fragen. Wie dick ist das Eis? Und: Wird es eine Elfstedentocht geben?

Elf Städte, tausende Teilnehmer, Millionen Zuschauer – ein Mythos. In der niederländischen Provinz Friesland hat das Eislaufen eine lange Tradition, seit 1909 hat die gesamtniederländische Begeisterung für diesen Sport einen eigenen Höhepunkt. Damals wird erstmals die Elfstedentocht – die Elf-Städte-Tour – organisiert, über zugefrorene Kanäle geht das Rennen von Leeuwarden über Sneek, IJlst, Sloten, Stavoren, Hindeloopen, Workum, Bolsward, Harlingen, Franeker und Dokkum zurück nach Leeuwarden, der Sieger braucht fast 14 Stunden für die knapp 200 Kilometer lange Strecke. Seitdem hat die Elfstedentocht 14 weitere Male stattgefunden – in jedem Winter, der hart genug war. Das Rennen gewann immer mehr an Popularität, mittlerweile warten die Niederländer aber bereits seit der letzten Austragung am 4. Januar 1997 darauf, dass die berühmten Worte „It giet oan!“ (Es geht los!“) verkündet werden.

„Wir sagen immer, dass es ein Rennen geben wird. Wir gehen immer davon aus, dass wir eine Elfstedentocht organisieren werden“, sagt Immie Jonkman aus dem Vorstand der Koninklijke Vereniging De Friesche Elf Steden. Jonkman arbeitet seit acht Jahren ehrenamtlich für den Verein, der das Rennen organisiert – eine Elfstedentocht hat es in ihrer Amtszeit aber noch nicht gegeben. „Natürlich ist es frustrierend – aber was sollen wir machen?“, gibt Immie Jonkman zu. „Wir brauchen einfach sehr viel Eis.“

In Zeiten von Schneekanonen und Pistenraupen wirkt die Elfstedentocht wie ein Relikt aus den Anfangszeiten des Wintersports. Nur langer, harter Frost lässt ein Rennen zu, laut Jonkman dürfen die Temperaturen in Friesland zwei Wochen lang nicht über 10 Grad minus steigen. Nur wenn das Eis auf der gesamten Strecke 15 Zentimeter dick ist, gibt es ein Rennen. Obwohl fast 17 Jahre seit der letzten Elfstedentocht vergangenen sind, könnten Jonkman und ihre Vereinskollegen innerhalb weniger Tage alles für den großen Tag vorbereiten. „Sobald es anfängt zu frieren, weiß jeder, was zu tun ist“, sagt sie. Entscheidend sei dann, das Eis und die Wetterlage permanent zu überwachen. „Wenn das Eis sieben bis acht Zentimeter dick ist und die Kälte anhalten soll, werden die Planungen konkreter.“

Die Rennstrecke ist in zehn Teile gegliedert, die von 22 Abschnittsbeauftragten betreut werden. Die Aufgabe dieser Eismeister ist es, „der Natur zu helfen“, wie es Jonkman formuliert. Das Eis muss zum Beispiel von Schnee befreit werden, damit es weiter wachsen kann. Und an kritischen Stellen, etwa unter Brücken, wird Eis transplantiert, um Lücken zu schließen. Je länger der Frost andauert, desto hektischer und konkreter werden die Arbeiten und Planungen. Immie Jonkman erinnert sich noch gut an den Februar 2012, als in Friesland Temperaturen von bis zu minus 22 Grad herrschten – und die Anspannung im Land wuchs und wuchs.

Nach mehreren Tagen strenger Kälte riefen die Organisatoren damals ihre Eismeister zusammen, um über den Zustand des Eises zu beraten. Ein Journalist bekam Wind von dem Treffen, ein Radiosender vermeldete, dass die erste Elfstedentocht seit 15 Jahren unmittelbar bevorstand – und Immie Jonkmans Telefon stand drei Tage lang nicht mehr still. „Alle Anrufer hatten die gleichen Fragen“, erinnert sie sich. „Ist das Eis dick genug? Wird die Elfstedentocht stattfinden?“ Der niederländische Premierminister Mark Rutte verkündete: „Etwa alle 15 Jahre wird unser Land nicht von Den Haag aus regiert, sondern von 22 Abschnittsbeauftragten in Friesland. Und unser Land ist in guten Händen.“ Zwei oder drei kalte Tage mehr hätten gereicht, letztendlich wurden alle Träume aber vom Tauwetter zunichte gemacht.

Sollte es in diesem Winter klappen, wird es eine kleine Völkerwanderung nach Friesland geben. Die Niederländer sind wohl wie kaum ein zweites Volk in der Lage, sich in einen kollektiven Freudentaumel zu versetzen und gemeinsam zu feiern. Die Koninklijke Vereniging De Friesche Elf Steden erwartet 15 000 bis 16 000 Starter, hinzu kämen eine bis eineinhalb Millionen Zuschauer an der Strecke in Friesland – fast jeder zehnte Niederländer würde also zur Elfstedentocht fahren, hinzu kommen tausende freiwillige Helfer. Überall entlang der Strecke feiert das Publikum ein riesiges Volksfest. Der Rest der Nation sitzt vor dem Fernseher, viele melden sich bei der Arbeit krank, um zumindest die Übertragung verfolgen zu können. „Wir können nicht darauf Rücksicht nehmen, ob die Elfstedentocht an einem Arbeitstag oder an einem Sonntag stattfindet – die Chance auf ein Rennen ist einfach zu gering“, sagt Immie Jonkman. 2012 regte der rechtspopulistische Politiker Geert Wilders sogar an, die Elfstedentocht zum nationalen Feiertag zu machen.

Ab 5 Uhr morgens gehen die Starter in Gruppen aufs Eis. In jeder der elf Städte müssen sich die Läufer einen Stempel abholen, bis Mitternacht müssen sie im Ziel sein. An den Start gehen dürfen nur mindestens 18 Jahre alte Vereinsmitglieder der Koninklijke Vereniging, zwei andere Vereinsmitglieder müssen bezeugen, dass der Starter eisläuferisch und konditionell in der Lage ist, die Strecke zu bewältigen. Trotz dieser Auflagen würden am liebsten noch viel mehr Menschen am Rennen teilnehmen, was aber die Organisation der Veranstaltung unmöglich machen würde.

Immie Jonkman kann die Begeisterung ihrer Landsleute manchmal selbst kaum begreifen. „Das Rennen hat sich zu einem Mythos entwickelt, es wird größer und größer – vor allen Dingen in den Köpfen der Menschen“, sagt sie. „Die Friesen sind da gelassener, sie können das Eis auch besser einschätzen.“ Viel zur Legende der Elfstedentocht beigetragen hat das Rennen des Jahres 1963. Bei Temperaturen von minus 18 Grad und beißendem Ostwind schafften es nur 69 der rund 10 000 Starter ins Ziel. Das erstmals im Fernsehen übertragene Rennen ging als „Die Hölle von ’63“ in die Geschichte ein und wurde fürs Kino verfilmt, Sieger Reinier Paping wurde zum Volkshelden – auch weil sich die Nation bis zur nächsten Elfstedentocht zwölf Jahre gedulden musste.

Seit der Gründung der Elfstedentocht vor mehr als einem Jahrhundert haben die Menschen in den Niederlanden nur ein einziges Mal so lange auf das nächste Rennen warten müssen wie heute. 1940, 1941, 1942 gab es sogar drei Rennen hintereinander, 1985 und 1986 immerhin zwei. Immie Jonkman sagt, die Meteorologen hätten Friesland einen sehr kalten Winter versprochen, momentan ist bei Temperaturen von 4 bis 5 Grad von Eis aber keine Spur. Jonkman glaubt nicht, dass die globale Erwärmung die Elfstedentocht schon bald gänzlich unmöglich machen wird. „Wir brauchen extremes Wetter“, sagt Jonkman. „Und wenn man sich die Entwicklung weltweit anschaut, wird das Wetter nun einmal immer extremer.“

Im Januar könnte es also so weit sein, vielleicht im Februar, möglicherweise auch erst im nächsten Winter. „Es wird eine 16. Elfstedentocht geben, da bin ich mir sicher“, sagt Immie Jonkman. „Und wir werden alles tun, damit es klappt. Wir hoffen weiter.“

Es braucht nur ein paar kalte Tage, dann wird das Fieber wieder steigen.

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