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Eiskunstlauf: Trauma oder Täuschung?

Ein Preisrichter sagt, DEU-Sportdirektor Dönsdorf habe ihn früher sexuell belästigt – der bestreitet das.

Draußen bewegen sich die Äste der mächtigen Bäume. Man kann das durch die Panoramascheibe im Restaurant des Sportparks Hamburg-Öjendorf sehen. Hinter der Scheibe sitzt Jörn Lucas und arbeitet eine Geschichte auf. Lucas sagt, er habe die Geschichte 25 Jahre lang verdrängt. Niemand habe sie gekannt, seine Mutter nicht, seine Frau nicht, seine Freunde nicht. Jetzt habe sie ihn eingeholt. Die Geschichte lautet: Udo Dönsdorf, der Sportdirektor der Deutschen Eislauf-Union (DEU), habe ihn sexuell belästigt. Vor 25 Jahren, als Dönsdorf noch Sportstudent war und dem Roll- und Eiskunstläufer Lucas aus Hamburg in Essen private Trainingsstunden gegeben hatte. Dönsdorfs Anwalt, Alexander Stolberg-Stolberg, sagt: „Diesen Vorfall hat es nie gegeben. Herr Dönsdorf sagt, er habe Herrn Lucas nie sexuell belästigt.“

Lucas’ Aussagen haben eine besondere Brisanz. Denn ein 23-jähriger Berliner Eistänzer teilte im Februar mehreren Vertrauenspersonen mit, Dönsdorf habe ihn 2006 sexuell belästigt. Bis ins Detail schilderte er die Szene aus seiner Sicht. Dönsdorf dagegen sprach nur von einem „kurzen Kuss“. Für ihn eine „Lappalie“.

Jetzt kommt Lucas, er redet, weil er „nicht will, dass junge Menschen solchen Problemen ausgesetzt sind“. Der 46-Jährige ist ein bedächtiger Mann, er führt langsam die Tasse an den Mund, er hat nichts Hektisches an sich. Er wohnt in Hamburg, ist Geschäftsführer des größten Sportvereins in Lüneburg und Eistanz-Preisrichter. Man sieht ihm seine Gefühle nicht an. Man muss ihm zuhören, um sie zu erahnen.

„Ich war 19 oder 20, als es passierte“, sagt er. Mit seiner damaligen Tanzpartnerin habe er in Dönsdorfs Wohnung gesessen. Nichts Ungewöhnliches, die beiden hätten immer bei Dönsdorf übernachtet, wenn sie in Essen trainierten. Dönsdorf war Rolltanz-Weltmeister, für Lucas „ein Vorbild“. Nie habe er erwartet, „dass es da mal Probleme geben könnte“.

Aber dann, in der Wohnung, habe ihn Dönsdorf plötzlich angefasst. „Verdeckt, auf perfide Weise. Es war eindeutig.“ Dönsdorfs Anwalt sagt dagegen, sein Mandant bestreite, dass es so ein Anfassen gegeben habe.

Seine Partnerin, sagt Lucas, habe dabeigesessen, habe aber nichts mitbekommen. Aber er, er sei „total geschockt“ gewesen. Und er habe nicht mit dieser Situation umgehen können. Da waren auf der einen Seite diffuse Schuldgefühle. Lucas wollte nicht, „dass der Trainer wegen dieser Sache Probleme bekommt“. Andererseits „konnte ich das alles nicht fassen“.

Also habe er verdrängt. Er verdrängte so massiv, dass er mit keinem darüber redete. Nur von Dönsdorf trennte er sich sehr schnell, seine Partnerin trug die Entscheidung mit. Aber er habe ihr nie seine wahren Gründe für die Trennung erzählt. Auch mit Dönsdorf habe er nie darüber geredet. Aber bis zur Trennung achtete er darauf, dass immer jemand zwischen ihnen war.

Jahrelang gab es keinen Kontakt mit Dönsdorf. Lucas war inzwischen Preisrichter, Dönsdorf ging zur DEU. Irgendwann traf der Preisrichter Lucas den DEU-Funktionär Dönsdorf. Und immer habe er gedacht, „dass der mich angefasst hatte“, sagt Lucas. Aber Lucas hatte zu sehr verdrängt, als dass er auf diesen Satz direkt reagieren konnte. Erst dieser Hinweis einer Preisrichter-Kollegin habe alles geändert. „Da ist was“, hatte sie gesagt, „ich schicke dir Zeitungsartikel.“ Es waren die Artikel über den Berliner Eistänzer. Lucas las sie in seinem Büro. In diesem Moment, sagt er, seien die ganzen Erinnerungen wieder da gewesen. „Ich höre noch sein Schnaufen in meinem Ohr.“ Doch Dönsdorfs Anwalt sagt: „Ich finde es verwunderlich, dass so eine Aussage nach 25 Jahren kommt und in zeitlicher Nähe zu einem anderen Fall ist. Da zweifle ich an der Wahrhaftigkeit so einer Aussage.“

Lucas sagt, er habe nicht weiterarbeiten können. An diesem Abend schrieb er Elke Treitz eine E-Mail. Treitz ist Vizepräsidentin der DEU, ihr schilderte er seine Erinnerungen. Damit ist das DEU-Präsidium offiziell informiert. Eine Woche lang habe er in seinem Job funktioniert, sagt Lucas, mechanisch, professionell. Aber dann spürte er, „dass ich es allein nicht schaffe“. Er informierte seine Frau, er rief den Opferhilfe-Verein Hamburg an. Am Telefon hatte er seine spätere Therapeutin. Ihr erster Rat war: „Packen Sie ihre Gefühle in eine Kiste und legen Sie eine Kette darum.“ Seit vier Wochen macht Lucas eine Therapie. Dort, nur dort, „im geschützten Raum“, redet Lucas über seine Gefühle. Im Restaurant schildert er alles, als müsste er einen Film beschreiben. Sachlich, emotionsarm. Emotionen kommen nur in Nuancen durch, bei einzelnen Sätzen, wenn seine Fassungslosigkeit besonders groß ist. Zum Beispiel, als er sagt: „Dieses Anfassen war unglaublich.“ Doch dieses Anfassen, lässt Dönsdorf mitteilen, habe es nie gegeben.

Es gibt Leute, die verstehen nicht, dass der Berliner Eistänzer seinen Fall erst drei Jahre nach dem Vorfall emotional aufarbeitete. Da sagt Lucas: „Ich verstehe nicht, dass das jemand nicht versteht. Bei mir hat es 25 Jahre gedauert.“

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