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Im Viertelfinale schaltet Russland das favorisierte Holland aus. Andrej Arschawin spielt sich zum Superstar auf.

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EM-Geschichten (12): 2008: Das neue russische Nationalgefühl

Die Europameisterschaft 2008 war der erste starke Auftritt einer russischen Nationalelf. Ganz Europa staunte über die Wunderläufer – und ihren Trainer.

Am 8. Juni beginnt die Europameisterschaft. Wir haben in den letzten Wochen auf die Besonderheiten vergangener Turniere zurückgeblickt. Heute schließt die Serie mit der EM 2008.

2008 wurde in der sibirischen Kleinstadt Bolotnoje ein Kind geboren und auf den Namen Guus getauft. Guus Jewgenjewitsch Gorodnikow war der fleischgewordene Beweis für die Begeisterung der Russen für ihre „Sbornaja“. Diese spielte so stark auf wie noch nie in ihrer erst nach der EM 1992 begonnenen Geschichte, die zuvor von quälenden Niederlagen und antiquiertem Defensivfußball geprägt war.

Vater des Erfolgs war der Trainer Guus Hiddink, ein Weltenbummler, der die niederländische Fußballphilosophie erfolgreich in der ganzen Welt verbreitet hatte. Hiddink war der erste ausländische Cheftrainer der russischen wie auch der sowjetischen Geschichte. Angeblich wurde er von Chelsea-Besitzer Roman Abramowitsch persönlich in einem seltenen Anflug von Patriotismus überredet, in Russland anzuheuern. Hiddink hat es geschafft, die chronisch pessimistischen russischen Anhänger tatsächlich an einen Sieg ihrer Mannschaft glauben zu lassen. Und nicht nur das: Einer großen Uefa-Umfrage zufolge glaubten vor den Halbfinals sogar die meisten internationalen Fans an einen Europameister Russland.

Dass es am Ende anders kam, lag an den Spaniern, die Russland im ersten Gruppenspiel mit 4:1 und im Halbfinale mit 3:0 besiegten. Diese Duelle bildeten die Klammer um den Auftritt der Russen in den Alpenrepubliken, doch seine Geschichte wurde dazwischen geschrieben. Vor allem das 3:1 nach Verlängerung gegen Holland wurde zum Triumph der Mannschaft um den in den ersten zwei Spielen noch gesperrten Andrej Arschawin. Die Russen waren unter Hiddink die besseren Holländer. Ihr aggressives Pressing in der eigenen Hälfte, ihre stürmenden Außenverteidiger und vor allem ihre schier unendliche Kondition sorgten für einen verdienten Erfolg über die in der Gruppenphase noch überragenden Niederländer, die zudem fünf Tage mehr Ruhe vor der Viertelfinalpartie hatten.

Gewohnt knorrig kommentierte Hiddink: „Wir laufen viel, aber wir laufen auch viel falsch. Manchmal wünsche ich mir, sie würden weniger laufen.“ Die Russen marschierten so eindrucksvoll, dass sie in Fanforen gar des Dopings verdächtigt wurden. Dabei lag der Grund wohl schlicht in der dem Kalenderjahr entsprechenden russischen Saison, außer dem damaligen Nürnberger Iwan Sajenko spielten alle Akteure in der russischen Liga und reisten im Gegensatz zur Konkurrenz ausgeruht an.

Neben dem aufsteigenden Stern des Andrej Arschawin war die Euro 2008 der Durchbruch des Roman Pawljutschenko. Der schlaksige Stürmer hatte die Russen in der Qualifikation mit zwei späten Treffern gegen England überhaupt erst zum Turnier geschossen, wo er mit drei Toren zum besten Schützen seiner Mannschaft wurde. Er traf auch beim 2:0 in der Gruppenphase gegen Schweden, zuvor hatten die Russen Griechenland mit 1:0 besiegt. Berti Vogts, damals Nationaltrainer von Aserbaidschan, schmeichelte den Russen mit einem ungewöhnlichen Vergleich: „Sie laufen schneller rückwärts als meine Spieler vorwärts.“

Die EM 2008 war der Höhepunkt des „Russischen Sportsommers“. Bei der Eishockey-WM wurde im Mai 2008 Gastgeber Kanada im Finale mit 5:4 besiegt. Dann holte Zenit St. Petersburg den UEFA-Cup. Und anschließend wirbelten Arschawin & Co. Europa durcheinander. Nie hingen so viele Nationalfahnen in den Fenstern russischer Städte. Guus Jewgenjewitsch Gorodnikow wird sich, sobald er lesen gelernt hat, gerne die Chroniken aus seinem Geburtsjahr vornehmen.

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