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EM  Nebenschauplatz: EM  Nebenschauplatz

Der englische Schauspieler und Autor David John Watton verfolgt die Europameisterschaft aus 12 000 Kilometern Entfernung – und ist inzwischen der wohl müdeste Mensch in ganz Australien. Für einen halbwegs verantwortungsbewussten Erwachsenen gibt es nur wenige gute Gründe dafür, um 4.

Der englische Schauspieler und Autor David John Watton verfolgt die Europameisterschaft aus 12 000 Kilometern Entfernung – und ist inzwischen der wohl müdeste Mensch in ganz Australien.

Für einen halbwegs verantwortungsbewussten Erwachsenen gibt es nur wenige gute Gründe dafür, um 4.45 Uhr wach zu sein. Ein Baby zu füttern wäre ein ziemliches gutes Motiv. Oder sich als Landwirt um das liebe Vieh zu kümmern. Zuzuschauen, wie sich Englands Nationalmannschaft mit neun Verteidigern gegen die Ukraine stemmt, gehört jedenfalls nicht in diese Kategorie. Doch genau das mache ich seit drei Wochen. Ich schaue mir die Spiele der Europameisterschaft an. Live. In Australien. Am anderen. Ende. Der. Welt.

Einen nicht unerheblichen Teil meiner Kindheit habe ich damit verbracht, so zu tun, als wäre ich Paul Gascoigne. Stundenlang lieferte ich mir fiktive Zweikämpfe mit einem fiktiven Thomas Berthold in einem fiktiven „Stadio delle Alpi“. Inzwischen bin ich 32 und trage mein Panini-Sammelalbum noch immer genauso stolz unterm Arm wie vor 20 Jahren. Unter Fußballfans mag das nichts Besonderes sein, aber genau das ist der Punkt: Hier, in Melbourne, fühle ich mich als Fußballfan wie ein einsamer Abenteurer im weiten, Fußball-leeren Outback.

Eine EM ist mehr als nur ein Fußballturnier, es steht für ein großes Miteinander. Spätestens seit der EM ’96 in meinem Heimatland weiß ich: Als Fußballfan bei einer Europameisterschaft fühlt man sich als kleiner Bestandteil eines großen Ganzen. Auch in diesem Jahr möchte ich wieder Teil dieses großen Ganzen sein, einzig: Es ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Nacht für Nacht sitze ich alleine vor meinem Fernseher. Das ist das Gegenteil des großen Ganzen, es ist eine sehr einsame Erfahrung.

Schon das Champions-League-Finale habe ich zusammengerollt in einem Schlafsack verfolgt, dicht kauernd vor den winzigen Lautsprechern meines kleinen Fernsehers, um meine Freundin nicht um ihren wohlverdienten Schlaf zu bringen. Niemand, mit dem ich mich über Didier Drogbas fantastisches Kopfballtor hätte freuen können; niemand, mit dem ich meine Freude über den Sieg eines englischen Teams im Elfmeterschießen (!) gegen eine deutsche Mannschaft (!!) hätte feiern können. Stattdessen: Mitleid – für die dicken Augenringe am nächsten Morgen. Während der EM wurde aus dem Mitleid meiner Kollegen blanker Hohn, weil ich infolge meines Schlafmangels Tag für Tag schusseliger wurde. Ich will ehrlich sein: Als die Vorrunde vorbei war, habe ich drei Kreuze gemacht.

In meinem Fernseher sehe ich Menschen in absurden orangefarbenen Verkleidungen, daneben korpulente Dänen mit Wikingerhelmen und natürlich Manolo, den ewigen Trommler der spanischen Fans. Mehr denn je fühle ich mich bei diesem Anblick als Europäer. Wie gerne wäre ich dabei! Als emigrierter Fußballfan bleibt mir indes nichts als der neidvolle Blick von meinem Sofa. Mitten in der Nacht, allein, am anderen Ende der Welt. David John Watton

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