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Hans-Ullrich „Ulli“ Wegner, 77, ist der erfolgreichste deutsche Boxtrainer. Nach einer mittelmäßigen Karriere als Boxer gewannen die von ihm trainierten Sportler mehr als 100 Medaillen bei Europa- und Weltmeisterschaften sowie Olympischen Spielen.

©  Thomas Frey/Imago

Boxtrainer Ulli Wegner im Ruhestand: „Es ist unheimlich schwer zu ertragen“

Boxtrainer Ulli Wegner über seine Kündigung beim Sauerland-Stall, die Kindheit mit Kühen, den Aufstieg nach oben – und die guten alten Zeiten seines Sports.

Ulli Wegner ist Deutschlands erfolgreichster Boxtrainer. Bei den Profis formte er sechs Weltmeister, darunter Sven Ottke, Arthur Abraham und Marco Huck. Vor Kurzem wurde ihm jedoch zum Jahresende gekündigt. Die Angelegenheit wird die Gerichte beschäftigen. Wir haben mit ihm über seine Enttäuschung darüber und eine große Karriere gesprochen, die in ärmlichen Verhältnissen begann und bis ganz nach oben führte.

Herr Wegner, rote oder blaue Ecke?
Blaue. Die meisten Kämpfe haben wir ja in Deutschland bestritten, es waren also Heimkämpfe, und für die war die blaue Ecke reserviert. Wir sind ganz gut gefahren damit.

Sie haben als Trainer mehr als 100 WM-Kämpfe bei den Profis begleitet...
... 103 um genau zu sein. Davon waren 89 siegreich. Von mir sind sechs Boxer Weltmeister geworden. Und zwei Frauen! Sven Ottke hat mehr als 20 Mal seinen Titel erfolgreich verteidigt und in seinem letzten Kampf neben dem IBF-Titel den der WBA geholt. Arthur Abraham hat den WM-Titel in zwei unterschiedlichen Gewichtsklassen geholt, diese mehrmals erfolgreich verteidigt, leider fehlte ihm der große Abgang. Dazu wurden auch noch Marco Huck, Markus Beyer, Yoan Pablo Hernández, Jack Culcay Weltmeister sowie Cecilia Brækhus und Heidi Hartmann Weltmeisterinnen.

Davor waren Sie viele Jahre bei den Amateuren erfolgreich. Was bewog Sie dazu, die Lager zu wechseln?
Es war eine Herausforderung. Es fiel mir emotional schwer, das Amateurlager zu verlassen. Es war eine lehrreiche, schöne und erfolgreiche Zeit. Aber die Profis lockten. Finanziell konnte ich mich unheimlich verbessern.

Wie kam es dazu?
Nach der Amateur-WM 1995 in Berlin, bei der wir als deutsche Staffel zehn Medaillen gewonnen hatten, hatte ich ein Gespräch mit Promoter Klaus-Peter Kohl von Universum Box-Promotion. Er wollte mich am besten sofort. Ich sagte, ohne dass wir über Geld gesprochen hatten, ich werde auf jeden Fall noch die Olympischen Spiele 1996 in Atlanta mitmachen. Ich wollte meine Jungs vor diesem Höhepunkt nicht im Stich lassen – oder dass sie eventuell Schwierigkeiten bekommen. Außerdem wollte ich mich auch fair dem Amateurverband gegenüber zeigen, der mich 1991 zum Bundestrainer berufen hatte. Ich wollte das Vertrauen mit Medaillen bei Olympia zurückzahlen, was in Atlanta mit einmal Silber durch Oktay Urkal und Bronze durch Thomas Ulrich auch gelang, denke ich.

Stimmt es, dass Sie nach der Wende arbeitslos waren?
Für drei Monate. Meine Frau Margret, sie war Lehrerin, hat uns beide über die Runden geschaukelt. Allein die Miete ging von 125 Ostmark auf 620 West hoch. Ich weiß heute nicht, wie wir das geschafft haben.

Sie sind dann im September 1996 zu Kohls großem deutschen Rivalen Wilfried Sauerland gewechselt. Wieso?
Kohl wollte nicht Olympia abwarten. Irgendwann habe ich auf meinem Sofa gelegen und darüber sinniert, was ich nach Olympia machen werde. Dann klingelte das Telefon, Jean-Marcel Nartz war dran, der Matchmaker von Sauerland. Er fragte, ob ich nicht Interesse hätte. Eine Woche später saß ich mit Wilfried Sauerland zusammen. Er akzeptierte, dass ich erst nach Olympia dazu bereit wäre.

Sie sollen als erstes Sauerland überredet haben, ihren Amateurboxer Sven Ottke mit unter Vertrag zu nehmen.
Und wie. Ich wusste, dass Ottke die zwölf Runden liegen würden, die bei den Profis geboxt werden. Er wartete ein paar Runden ab, studierte den Gegner und boxte ihn dann aus. Ich habe Sauerland lange überreden müssen. Wir haben gestritten. Als Svenie dann Weltmeister wurde, hatten wir alles richtig gemacht. Ich habe bei mir gedacht: Naja Wilfried, ohne deine Finanzen und Möglichkeiten hätten Ottke und ich wohl keine Chance gehabt. Ich wusste auch, dass Ottke schnell einen WM-Kampf bei den Profis brauchte. Wenn er im Vorprogramm boxen würde, wären die Zuschauer Biertrinken gegangen, so langweilig wäre das gewesen.

Ottke wurde schon im 13. Profikampf Weltmeister.
Und er führte für Sauerland das weiter, was Henry Maske und Axel Schulz auf den Weg gebracht hatten. Maske war sehr erfolgreich und Schulle – was soll ich sagen? Seine Popularität ist ein Weltwunder, durch seine angenehme und volksnahe Art.

Sie wurden populär durch Ihre Ansagen und Sprüche in den Ringpausen. Die waren zugkräftiger als mancher Kampf.
Ich weiß. Dabei war nie etwas geplant, das war alles intuitiv. Das ist meine Mentalität. Überall, wo ich hinkomme, sprechen mich Menschen zwischen 30 und 90 darauf an. Ich glaube, das war auch ein Grund, weshalb ich 16 Mal in Folge Boxtrainer des Jahres geworden bin. Weil es ein Publikumspreis ist, bin ich auch sehr stolz. Auch einige meiner Jungs holten solche Titel. Das war mir wichtig. Bei allen Erfolgen musst du bei den Fans ankommen. Du darfst nie die Normalität deines Lebens vergessen und vom Herzen und vom Verstand aus mit deinen Fans mitgehen.

Arthur Abraham war einer von ihnen.
Arthur hatte so gut wie keine Amateurausbildung. Er kam mit nüscht in den Taschen zu mir. Die ersten Turnschuhe hat ihm meine Frau geschenkt. Richtig Karriere hat er dann wegen seines Kieferbruchs gemacht, als ich ihn nicht aus dem Kampf genommen habe.

Genau genommen war es ein doppelter Kieferbruch in der vierten von zwölf Runden. Das war 2006. Abraham verteidigte den WM-Titel durch einen Punktsieg.
Ja, ich bin auf dem Seil getanzt. Ich habe hinterher nur einen Arzt auf meiner Seite gehabt, der gesagt hat, dass keine lebensbedrohende Verletzungen vorgelegen haben. Wenn man sich den Kampf heute noch einmal anschaut, sieht man, welches Risiko ich damals eingegangen bin. Hätte ich ihn rausgenommen, wäre seine Karriere erledigt gewesen, bevor sie überhaupt losgegangen war. Der wäre ja nie mehr selbstsicher geworden.

War das trotzdem nicht viel zu riskant?
Als Sportler, gerade als Boxer, musst du Schwierigkeiten überwinden können, gerade wenn es mal nicht so läuft in einem Kampf, unbewusst. Diesen Kieferbruch hat sich niemand gewünscht. Wenn das Kiefergelenk betroffen gewesen wäre, hätte ich ihn rausgenommen. Ich bin das Risiko eingegangen, weil ich mir sicher war, dass er seinen Gegner beherrschen konnte. Das tat er dann auch, trotz des Handicaps. Ich habe danach mehrere Tage gebraucht, um damit klarzukommen. Es hagelte Kritik, ich hatte damals zig Strafanzeigen am Hals. Das war eine schwierige Zeit für mich.

23 Jahre nach Ihrem Profieinstieg schließt Sauerland Ihr Gym zum Ende des Jahres. Wie viel Wehmut ist dabei?
Na klar ist Wehmut dabei, und wie. Nach vielen doch sehr erfolgreichen Jahren ist es nicht leicht mit anzusehen, wie alles jetzt endet. Ich habe Hochachtung davor, was Wilfried Sauerland, Gründer des Stalls, ermöglicht hat. Für mich ist es aber sehr traurig, dass ich so einen emotionslosen Abschied bekommen habe.

Im Herbst dieses Jahres haben Sie bei den German Boxing Awards den „Herqul“ erhalten, eine Art Oscar für Ihr Lebenswerk. Hinterher wurde Ihnen von einer Mitarbeiterin des Sauerland-Stalls die schriftliche Kündigung zum 31. Dezember 2019 überreicht.
Oh ja. Jetzt alles schlechtzumachen, wäre nicht meine Art. Dabei bleibt es auch. Ich erzähle Ihnen mal eine Geschichte. Vor zwanzig Jahren hatte ich ein zweites Mal das Angebot, zu Sauerlands Konkurrenten Kohl zu wechseln. Dieser hatte Ottke für drei Kämpfe zehn Millionen Euro geboten. Dann habe ich Ottke vors Schienbein getreten und gesagt, ich gehe nicht mit. Dann ist auch Ottke geblieben. Er wollte nicht ohne mich. Da haben wir Charakter bewiesen.

Sauerland soll Ihnen später sogar einen Vertrag auf Lebenszeit gegeben haben.
Das habe ich schriftlich. Ich habe es zum 65. Geburtstag von Sauerland erhalten. So lange ich die Treppe hoch zum Ring komme, könne ich arbeiten.

Sie haben 1971 als Trainer angefangen. Damals druckte die New York Times die Pentagon-Papiere über den Vietnamkrieg ab, Honecker löste Ulbricht ab und Joe Frazier besiegte Ali.
Mein Gott, wie lange ist das her.

Herr Wegner, Sie sind 77 Jahre alt. Haben Sie irgendwann vergessen, aufzuhören?
Ehrlich? Das war nie ein Thema für mich. Ich fühlte mich der Sache, dem Boxen und meinen Jungs verpflichtet. Ich wollte als Trainer immer etwas bewegen und habe mir das hart erarbeitet, von der Pike auf. Ich vergesse nie, dass ich allein ein Nichts wäre. Man braucht ein gutes Team, eine intakte Familie und starke Konkurrenz. Ich hatte und habe alles. Und ich versuche nicht zu vergessen, dass es nicht darum geht, selbst zu glänzen, sondern darum, die Träume deiner Sportler zu erfüllen.

Das soll jetzt vorbei sein?
Wissen Sie, wann immer ein großer Trainer verabschiedet wird, im Boxen, im Fußball oder sonst wo, habe ich Tränen in den Augen gehabt. Das hat mich immer angefasst. Dann habe ich immer bei mir gedacht: Was, wenn dir das passiert? Da sah ich immer eine große Leere.

Weil Sie Angst hatten?
Angst nicht, aber ich mache mir so meine Gedanken.

Welche?
Die Vorstellung, nicht mehr Boxtrainer zu sein, ist für mich unheimlich schwer zu ertragen. Wissen Sie, privat freut sich meine Frau. Aber niemand weiß, was rauskommt, wenn ich den ganzen Tag zu Hause sitze. Außerdem wird meine Frau von Tag zu Tag sauerer, wie das gelaufen ist. Sie sagt, ihr ward doch Freunde! Sie hält die Kündigung auf diese Art und Weise für geschmacklos.

Ein erster Gütetermin zwischen Ihnen und Sauerland ist gescheitert. Nun geht es im März vors Gericht. Musste es so weit kommen?
Ich war immer ein Sauerland-Mann. Wir hatten immer eine freundschaftliche Verbindung. Wir waren ein großes Team, mit Fleiß und Stolz. Jetzt sagen sie, dass sie sich mich nicht mehr leisten können und das Gym auch nicht. Das kann man verstehen, aber die Art und Weise ist abstoßend. Für mich ist das enttäuschend. Ich möchte nicht weiter darauf eingehen, solange das Gericht nicht entschieden hat. Sauerland soll mir das geben, was mir noch zusteht und dann möchte in Freundschaft da rausgehen, auch wenn einiges kaputtgegangen ist. Das tut mir in der Seele weh, da schäme ich mich gar nicht, das zuzugeben. Mit meinem Verstand kann ich bestimmte Dinge überbrücken, aber innerlich sieht es anders aus.

Dennoch dürften Sie wirtschaftlich unabhängig sein.

Das bin ich. Ich kriege seit zwölf Jahren Rente, dazu eine Bergmannsrente, weil ich damals bei der Wismut auch unter Tage gearbeitet habe. Die Rente habe ich nie angerührt. Meine Frau kriegt auch eine Rente. Wir kommen über die Runden. Keiner wird sagen, ich habe genug Geld. Und die Millionäre sind die Geizigsten, sagt man. Sehen Sie, ich weiß doch wo ich herkomme. Ich war ein schlechter Schüler, weil ich damals nur Fußball im Kopf hatte und Kühe hüten musste. Oben in Penkun, Vorpommern, und kaum Kraft hatte, Schularbeiten zu machen. Morgens habe ich dann von den Mädels abgeschrieben.

Sie sind in Stettin geboren, ihre Familie ist 1945 nach Vorpommern geflüchtet.
Ich war in der vierten oder fünften Klasse als wir dann nach Penkun umgezogen sind. Nach der Schule bin ich mit zehn Kühen los. Ich habe mich auf meinen Ochsen draufgesetzt und bin vorneweg.

Wie ein Cowboy?
Ja, sechs Kühe gehörten uns, vier waren vom Nachbarn. Dafür habe ich von ihm zwei Mark die Woche bekommen. Ich habe mich jahrelang nicht getraut zu erzählen, dass ich mal sitzengeblieben bin, weil ich lange Zeit Ziegenpeter hatte. Ich habe mich geschämt. Ich habe dann eine Ausbildung zum Traktoren- und Landmaschinenschlosser gemacht mit Meisterbrief. Weil ich als Amateur geboxt hatte, ergab sich die Chance, beim Boxen Assistenztrainer zu werden. Mein erster Trainer, Hans Spazierer, hat mich erst mal wieder zur Schule geschickt. Dort habe meine 10. Klasse nachgeholt, dann habe ich Trainerlehrgänge besucht und ein Studium absolviert. In dieser Zeit habe ich einen unheimlichen Schub bekommen, ich habe gelernt wie verrückt und einen unglaublichen Ehrgeiz entwickelt. Über diesen Weg bin ich dann gewachsen.

Sie müssen jetzt gehen, dabei liegt das deutsche Boxen am Boden. Was sind die Gründe für die Probleme?
Bei den Amateuren stimmen die Strukturen nicht mehr. Zur Wende stimmte es noch, es gab allein fünf ostdeutsche Bundesstützpunkte. Wir Trainer waren glücklich, dass wir eine Stelle bekommen hatten, also haben wir uns reingeknallt. Und heute holt man sich einen Nationaltrainer aus Irland, das schlägt ja dem Fass den Boden aus. Das Problem ist doch, dass Trainer nicht mehr konkret genug sind, um sich mit Sportlern anzulegen, aus Angst um ihre Position. Wenn heute ein erfolgreicher Sportler sich über einen Trainer beklagt, muss dieser gehen. Das ist das Schlimmste, was passieren kann. Trainer müssen gestärkt werden und keine Angst haben müssen. Ja, ich bin Rentner, ich kann krähen. Aber ich war nie anders. Und das war meine Stärke. Ich werde nie meine Strukturen und Planung von Sportlern vermiesen lassen. Die Planwirtschaft der DDR ist pleitegegangen, aber die Planung und Strukturen des DDR-Sports waren Weltspitze.

Ottke bezeichnete Sie augenzwinkernd als Diktator.
Nein, ich habe nur alle wissen lassen, dass ich bestimme, die Richtung vorgebe. Bei aller Strenge habe ich stets die Persönlichkeit all meiner Jungs beachtet. Ein Trainer ist in allen Sportarten der Knotenpunkt für den Erfolg. Am Ende geht es darum, den Erfolg abzusichern. Dazu muss man nicht nur körperlich, sondern auch geistig in der Lage sein. Ich habe immer nur die Sorge gehabt, dass ich meine Jungs nicht gut genug entwickle. Einige kamen aus einfachsten bis schwierigen Verhältnissen. Die Boxer müssen sich in mich hineindenken und ich muss mich in sie hineinfühlen. Nur wer sich damit auseinandersetzt und den Willen entwickelt, wird es nach ganz oben schaffen.

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