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Alles im Rahmen: Familie Forster

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Die Mutter von Anna-Lena Forster im Interview: „Es war für mich nie selbstverständlich, dass es nur gesunde Kinder gibt“

Sybille Forster über die Geburt ihrer Tochter, neugierige Blicke im Dorf und die Schwierigkeiten für den Bruder.

An dieser Stelle berichtete das Team der Paralympics Zeitung, ein Projekt von Tagesspiegel und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Alle Texte zu den Spielen rund um Peking finden Sie hier. Aktuelles finden Sie auf den Social Media Kanälen der Paralympics Zeitung auf Twitter, Instagram und Facebook. Dieser Text erschien zu unserem Weltfrauentag Spezial.

Frau Forster, Ihre Tochter Anna-Lena ist ohne rechtes Bein zur Welt gekommen. Wie war es für Sie als Frau, ein Kind mit Behinderung zur Welt zu bringen?

Meine Cousine hat Trisomie 21, deshalb war ich von Kind an konfrontiert mit Behinderung. Es war für mich nie selbstverständlich, dass es nur gesunde Kinder gibt, und das hat es mir vielleicht ein bisschen leichter gemacht, damit umzugehen.

Wann haben Sie von der Behinderung erfahren?

Bei der Geburt. Man hat es vorher nicht gesehen und mir wurde immer gesagt, dass sie mit den Beinen nach hinten liegt. Man hat sie dann sogar noch gewendet, denn sie lag in der Steißlage und nicht mal im großen Ultraschall wurde ihre Behinderung festgestellt. Die Ärzte haben sich nur gewundert, dass sie sich so leicht drehen lässt, im Nachhinein war natürlich klar, warum. Ich hatte aber während der gesamten Schwangerschaft eine innere Unruhe, ich habe gespürt, dass da irgendwas nicht stimmt. Ich konnte es natürlich nicht deuten, aber ich hatte so eine Vorahnung.

Was war Ihr erster Gedanke nach der Geburt?

Nach der Geburt haben die Ärzte das Kind sofort mitgenommen, sodass ich sie nicht direkt sehen konnte. Ich wusste gar nicht, was los ist. Als mir die Ärzte gesagt haben, dass sie eine Behinderung hat und ein Bein fehlt, war erst mal Land unter, ich habe den ganzen Kreißsaal zusammengeschrien. Danach haben sie Anna-Lena gebracht, und als ich sie im Arm hatte war klar: Jetzt heißt es nicht den Kopf in den Sand zu stecken, denn damit schade ich meinem Kind.

Berühmte Tochter. Die Monoskifahrerin Anna-Lena Forster reiste als die große Medaillenhoffnung des deutschen Teams zu den Paralympics nach Peking. Die bisherige Ausbeute der 26-Jährigen: zweimal Silber und einmal Gold.
Berühmte Tochter. Die Monoskifahrerin Anna-Lena Forster reiste als die große Medaillenhoffnung des deutschen Teams zu den Paralympics nach Peking. Die bisherige Ausbeute der 26-Jährigen: zweimal Silber und einmal Gold.

© IMAGO/Mika Volkmann

Wie hat Ihr Mann reagiert?

Es war für ihn schon hart. Er hat ein paar Tage länger gebraucht, um das für sich zu verarbeiten. Es war für uns beide klar, dass wir das stemmen und dass ihre Behinderung kein Grund ist, jetzt irgendwas aufzugeben.

Und Anna-Lenas älterer Bruder Felix?

Es hat mich immer wieder gewundert, wie er damit umgeht. Er war damals knapp drei Jahre alt, hatte eine Kinderwerkbank und hat gesagt: „Ich baue der Anna-Lena jetzt ein Bein.“ Er hat immer wieder Sachen gebracht, wo ich dachte: Boah, und das von einem Dreijährigen. Trotzdem hat ein Geschwisterkind da schon sehr stark dran zu knabbern, aber in dem Alter kann man sich dazu noch gar nicht äußern. Für eine Mutter ist es sehr schwer, das richtig zu deuten, weil man die Verarbeitung des Kindes nur erahnen kann. Man sagt nicht umsonst, dass Geschwister von Kindern mit Behinderung „Schattenkinder“ sind. Sie treten automatisch in den Hintergrund, denn das Kind mit Behinderung steht fast immer im Mittelpunkt. Aus meiner heutigen Erfahrung hätte ich gerne jemanden von außen hinzugezogen, um das besser zu machen. Ich wurde oft auf Anna-Lena angesprochen, wie es ihr geht und dann sage ich: Ich habe mehr Sorge um meinen Sohn als um meine Tochter. Anna-Lena war schon immer dieses freudestrahlende Kind, das überall ankam – und Felix stand immer hintendran und hatte für andere wenig Bedeutung.

Hatte das Auswirkungen auf Ihren Sohn?

Ja, er geht mit Ellenbogen durch das Leben und versucht sich oft in den Vordergrund zu drängen. Wir haben uns zwar gesagt: Man darf das Geschwisterkind nicht aus den Augen verlieren und man muss dranbleiben – aber das ist sehr, sehr schwer.

Anna-Lena Forster und ihr Bruder Felix.
Anna-Lena Forster und ihr Bruder Felix.

© promo

Hat Ihr Sohn Ihnen deswegen mal Vorwürfe gemacht?

Nein, das nicht. Ich glaube, für die Kinder ist das gar nicht greifbar. Ein Beispiel: Mein Vater hat für Anna-Lena als Drei- oder Vierjährige ein Fahrrad umgebaut, sodass sie per Handbike Fahrradfahren konnte. Damals habe ich zu meinem Mann gesagt, dass Felix auch ein neues Fahrrad braucht und es doch toll wäre, wenn beide gleichzeitig ein Neues bekommen. Im Dorf hat jeder natürlich nur Anna-Lenas Fahrrad bewundert, aber Felix war ja eigentlich auch dabei. Zu Hause hat er aggressiv reagiert und ich konnte mir diese Reaktion drei Tage lang nicht erklären. Wahrscheinlich lag es daran, dass sein neues Fahrrad für andere unsichtbar war.

Wie hat die Geburt eines Kindes mit Behinderung ansonsten Ihr Leben verändert?

Ich weiß nicht, ob es für mich eine große Veränderung war. Ich denke, wir sind alle daran gewachsen und haben einfach jeden Lebensabschnitt von Anna-Lena mitgenommen. Wir haben eigentlich nichts anders gemacht, als wenn sie gesund gewesen wäre. Klar, man hatte natürlich einen größeren Aufwand, um das Bestmögliche rauszuholen, aber den hat man ja gerne auf sich genommen.

Was würden Sie anderen Frauen raten, die ein behindertes Kind zur Welt bringen?

Das ist schwierig, weil jede Frau das bestimmt anders empfindet. Die einen können vielleicht gar nicht damit umgehen oder brauchen einfach länger, um diesen Schock zu verarbeiten. Ich denke, es ist wichtig, das Kind so schnell wie möglich anzunehmen, wie es ist, denn ich kann nur immer wieder meinen Leitspruch sagen: Kopf in den Sand stecken schadet nur dem Kind. Mir selbst war es einfach immer wichtig, offen mit der Behinderung umzugehen, und ich habe Anna-Lena deshalb vom ersten Tag an nie versteckt. Ich bin sofort mit ihr im Kinderwagen ins Dorf und habe gemerkt, dass die Leute verhalten sind, denn jeder hat es natürlich gewusst, auf dem Dorf spricht sich so etwas schnell rum.

Was passierte dann?

Ich habe einige Leute angesprochen und gesagt: „Sie dürfen gerne in den Kinderwagen gucken, es ist alles gut und wir können gerne darüber reden.“ Das hat den Wind aus den Segeln genommen, dann haben sich die Leute getraut zu fragen, man hat das Thema besprochen und dann war das ganz normal. Einmal saß sie in einem Sitz eines Einkaufswagens. Bei allen Kindern kommen die strampelnden Beinchen zum Vorschein und bei Anna-Lena sieht man ja nichts. Der Mann hinter uns hat sie die ganze Zeit mit seinen Augen abgefahren und das Bein gesucht. Man konnte an der Stirn ablesen, was er gedacht hat und dann habe ich irgendwann gesagt: „Sie hat nur ein Bein, das ist aber alles in Ordnung.“ Daraufhin hat er sich plötzlich getraut, mich zu fragen und mit mir darüber zu reden. Ich denke, es ist das allerwichtigste, dass die Leute drumherum nicht das Gefühl haben: „Die darf man jetzt nicht ansprechen.“ Ich musste lernen, das zu vermitteln. Das war immer mein Weg damit umzugehen. Für mich war es ein guter Weg, aber ich weiß nicht, ob es für alle ein guter Weg ist.

Magdalena Austermann

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