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Die haben Großes vor. Östersund mit Trainer Graham Potter hat in den Play-offs Galatasaray Istanbul ausgeschaltet und will bald in die Champions League.

© Suvad Mrkonjic/dpa

Europa League: Östersunds FK: Die Theatermannschaft

Die Spieler von Östersund müssen sich an Kulturaufführungen beteiligen – oder werden gefeuert. Damit wollen es die Schweden weit bringen. Heute empfangen sie Hertha BSC in der Europa League.

Das mittelschwedische 50 000-Einwohner-Städtchen Östersund ist nicht gerade ein Ort, an dem man es erwarten würde, auf einen Vereinspräsidenten zu treffen, der sagt: „Irgendwann spielen wir Champions League.“ Nachfrage ist deshalb zwingend geboten: „Sie wollen Champions League spielen?“ Daniel Kindberg lächelt. „Nein, das haben Sie falsch verstanden. Wir werden Champions League spielen. Auch wenn Sie mich für den verrücktesten Präsidenten in ganz Europa halten.“

Nun ist der Klub dieses Präsidenten ohnehin nicht normal. Der Östersunds FK übt sich in einem Crossover, das in der Fußballwelt einzigartig ist. In den vergangenen Jahren hat er ein Theaterstück, ein Buchprojekt, eine Kunstausstellung und eine ans Ballett „Schwanensee“ angelehnte Tanzaufführung auf die Beine gestellt – wohlgemerkt, nicht nur veranstaltet, sondern selbst gemacht, und alle waren mit dabei: Spieler, Trainer, Physiotherapeuten, Geschäftsstellenmitarbeiter, alle. Zuletzt haben sie eine Musikrevue aufgeführt, zu der 2000 Zuschauer gekommen sind.

Alleinstellungsmerkmal Bühne

„Die Atmosphäre im Kader hat sich durch die Kulturprojekte verändert“, sagt Geschäftsstellenleiter Lasse Landin. „Das hat viel damit zu tun, dass die Spieler Sachen machen, die Fußballer und Männer normalerweise nicht tun.“ Der ÖFK, wie ihn die Anhänger nennen, entstand vor zwanzig Jahren als Fusionsklub zweier mittelmäßig erfolgreicher örtlicher Vereine. „Anfangs haben wir noch darauf gehofft, dass irgendwann ein Millionär vorbeikommt“, sagt Landin. Aber natürlich kam keiner. 2010 nahm der Klub all sein Geld zusammen, um den großen Wurf zu landen – und stieg von der dritten in die vierte Liga ab. Danach wussten sie in Östersund: Dieses Rattenrennen hat keinen Zweck. Wir müssen es irgendwie anders machen.

Motor im Klub ist der 49 Jahre alte Immobilienunternehmer Kindberg. „Die Frage ist doch: Wie kann man konkurrenzfähig sein als kleiner Verein mitten im Wald?“, sagt er. Irgendwann kam Landins Tochter mit dem Vorschlag, kulturelle Aspekte ins Klubleben zu integrieren. Anfangs sah das so aus, dass die Spieler ins Theater gingen oder Ausstellungen besuchten. Bis eines Tages eine Autorin zu Gast war, die Kindberg beiläufig fragte: „Weißt du, wovor Schweden am meisten Angst haben? Auf eine Bühne zu gehen und vor anderen Leuten etwas aufzuführen.“ Da machte es beim Präsidenten Klick – und der Östersunds FK hatte sein Alleinstellungsmerkmal gefunden.

Ein talentierter Trainer gehört auch dazu

Wobei das ein Muster ohne Wert wäre ohne die sportliche Qualität. Für die bürgt Cheftrainer Graham Potter, der seit 2011 in Östersund arbeitet und von Anfang an voll hinter den Kulturaktivitäten des Vereins stand. Der ehemalige Premier-League-Spieler fand die Idee reizvoll, einen anderen Profiverein zu erschaffen. „Dieses Kulturding ist ein wichtiger Teil davon. Es ist einzigartig und nichts, was während meiner Spielerkarriere in Großbritannien vorstellbar gewesen wäre.“ Unter Potters Leitung marschierte der ÖFK von der vierten bis in die erste Liga. Im Frühjahr gewann die Mannschaft den schwedischen Pokal und qualifizierte sich damit für die Europa League, wo sie auf dem Weg in die Gruppenphase Galatasaray Istanbul und Paok Saloniki ausschaltete.

Ihre Bühne. Das Team hat immer wieder Auftritte.
Ihre Bühne. Das Team hat immer wieder Auftritte.

©  Östersunds FK/Facebook

Nun glaubt niemand, dass diese Erfolgsgeschichte allein der Kultur zuzuschreiben wäre; es scheint auch so, als sei Graham Potter ein außergewöhnlich talentierter Fußballlehrer. Mit seiner Außenseitertruppe verlegt er sich nicht etwa auf Konter, sondern lässt munter den Ball zirkulieren. Daniel Kindberg glaubt, dass sein Coach „mittlerweile als einer der vielversprechendsten Trainer in ganz Europa gilt“.

Verlorene Seelen

Hinzu kommt ein Team, das viele verlorene Seelen eingesammelt und ihnen ein neues Fußballleben geschenkt hat. Da ist Brwa Nouri, der früher in Stockholm mit Drogen gehandelt hat und heute Kapitän ist. Saman Ghoddes, der überragende Techniker, den die großen Klubs alle zu schmächtig fanden. Oder Curtis Edwards, der mit 16 als eines der größten Talente in England galt, dann den Faden verlor, und den der Östersunds FK in der fünften schwedischen Liga entdeckt hat.

Den meisten Spielern scheint es nichts auszumachen, dass sie gezwungen sind, einmal im Jahr auf eine Bühne zu gehen und sich zu entblößen. Daran, dass sie gezwungen werden, besteht kein Zweifel. „Wer nicht mitmachen will, muss auch nicht“, sagt Kindberg munter. „Aber er wird halt gefeuert.“ Dann fügt er hinzu: „Im Grunde ist das alles Trainingsmethodik. Wir tun das, weil es uns hilft, Spiele zu gewinnen. Wenn wir viele Spiele gewinnen, werden wir Meister. Und wenn wir Meister sind, dann spielen wir Champions League.“

Keine Frage, der meint das wirklich ernst.

Jens Kirschneck

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