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Hochsprung

© dpa

Forschung: Wer wird Knorpel-Olympiasieger?

Besser ohne Doping: Forscher der Sporthochschule Köln haben natürliche Leistungsreserven entdeckt – in Bändern und Sehnen.

Vielleicht sprintet Tyson Gay in Peking die 100 Meter in 9,65 Sekunden. Vielleicht springt Jelena Isinbajewa mit dem Stab 5,04 Meter hoch. Vielleicht beendet Fabian Hambüchen seine Reckkür mit einem x-fach geschraubten Salto. Es könnte so viel zum Staunen geben bei den Olympischen Spielen, dass einem der Atem wegbleibt. Es scheint immer weiterzugehen mit der menschlichen Leistung. Eine Mauer nach der nächsten fällt – sei es mit Unterstützung von Doping oder nicht. Doch müssten die Grenzen der Leistungsfähigkeit nicht allmählich erreicht sein? Geht es tatsächlich noch weiter, oder muss das Internationale Olympische Komitee (IOC) schon bald seinen lateinischen Wahlspruch „citius, altius, fortius“ aufgeben, wörtlich übersetzt: „schneller, höher, stärker“?

Eine beruhigende Nachricht für das IOC kommt aus Köln von der Deutschen Sporthochschule. Der menschliche Körper hat noch Reserven, und sie liegen zum Beispiel in den Sehnen. Diese Reserven erforscht Gert-Peter Brüggemann, er ist Professor für Biomechanik. „Wie Knochen und Muskeln auf mechanische Reize reagieren, wissen wir schon, aber wie sieht es mit anderem Gewebe aus: Sehnen, Bänder, Knorpel?“, fragt er sich. „Im Zusammenspiel mit dem Muskel kann die Sehne die Leistung durchaus beeinflussen“, sagt Brüggemann. Viel mehr als die maximal mögliche Siegerzeit über 100 Meter interessiert den Wissenschaftler daher: „Wer wird eigentlich Knorpel- Olympiasieger?“

Beantworten können wird er das zwar nie, aber er nähert sich gerade mit seinen Kollegen Erkenntnissen darüber, welche Belastung das menschliche Gewebe aushalten kann. Sie haben sich an der Sporthochschule zu einem Team zusammengeschlossen, das sie „Momentum“ nennen, abgeleitet vom physikalischen Produkt aus Masse mal Geschwindigkeit. Hier betreiben Wissenschaftler aus der Biomechanik, Trainingswissenschaft, Biochemie, Psychologie und Sportmedizin seit 2006 gemeinsam grundlegende und anwendbare Forschung mit einem Ziel: Leistungssportlern mit dem gewonnenen Wissen zum Sieg zu verhelfen.

Wie nötig das vor allem in Deutschland ist, erfahren sie immer wieder, wenn sie die Leistungsfähigkeit von deutschen Kaderathleten und Fußballprofis mit der von Polizisten in Spezialeinsatzkommandos vergleichen. Das Ergebnis: „Die deutschen Athleten schneiden schlechter ab als die Beamten der SEKs und sind auch teilweise vom internationalen Niveau weit entfernt“, sagt Professor Joachim Mester, der Leiter von „Momentum“. Die deutschen Sportler zeigen Defizite bei der Kondition, bei Kraft und Koordination. Das bedeutet viel Arbeit für die Trainer, aber auch für die Wissenschaftler. „Eigentlich haben wir erst angefangen“, sagt Mester. Fünf bis zehn Jahre kann es dauern, bis aus der Grundlagenforschung ein Trainingsplan werden kann.

In anderen Ländern wie Australien und Japan bestehen schon länger breit angelegte Forschungseinrichtungen für den Leistungssport. Die Kölner wollen nun aufholen. Zum Beispiel mit einer Haaranalyse. „Wenn der Körper zu hohe Belastung erfährt, baut er körpereigenes Eiweiß ab. Das kann man in den Kopfhaaren nachweisen“, sagt Mester. „Wenn man die Trainingsbelastung kennt, kann man über die Haaranalyse genau feststellen, wie hoch die Belastung für den einzelnen Athleten eigentlich sein sollte.“ Am Ende steht das sogenannte Belastungsmanagement.

Was der Mensch maximal leisten kann, das wissen auch die Kölner Forscher noch nicht. Es gibt zwei Erklärungswege: Der eine ist ein mathematischer. Er rechnet einfach die bisher aufgestellten Weltrekorde hoch. „Diese Steigung wird geringer. Es sind immer wieder Veränderungen zu erwarten, aber mit kleinen numerischen Einheiten“, sagt Mester. Der zweite Erklärungsweg ist jener der Biomechaniker, Biologen, Psychologen, also der Forscher von „Momentum“. „Diese Sichtweise ist plausibler, weil sie mehrere Faktoren berücksichtigt, aber wir können nicht vorhersagen, wie schnell der Mensch mit besser trainierten Sehnen die 100 Meter rennt“, sagt Mester.

Die Forscher glauben an die Reserven im menschlichen Körper und Geist, denn auch was der Kopf zur Leistung beitragen kann, ist noch längst nicht ausreichend erforscht. Genauso wenig wie der Beitrag von Sehnen, Bändern und Knorpeln. „Es ist völlig verkehrt anzunehmen, dass diese Gewebe keine Reaktionen auf mechanische Reize zeigen“, sagt Mester.

Sein Kollege Brüggemann will zunächst einmal mit den Turnern der Nationalmannschaft wissenschaftliche Fortschritte machen: Und zwar herausfinden, wie die Sehnen bei Sprüngen am Boden optimal reagieren, also möglichst viel Energie speichern und wieder abgeben können. Ziel sind steifere Sehnen, die mehr leisten und zugleich weniger verletzungsanfällig sind. Dazu mussten zunächst die Muskeln der Turner gescannt werden. „Die Jungs liegen alle digital vor“, sagt Brüggemann. Mit aufwendigen Messverfahren erfolgen nun Bewegungsanalysen.

Ein Kollege von Brüggemann hat schon eine Erkenntnis veröffentlicht. Um die Sehnen stabiler zu machen, müssen die Sportler mit wenigen Wiederholungen und maximaler Belastung arbeiten, nicht mit geringen Gewichten und vielen Wiederholungen. Bei Ausdauersportlern ist es dagegen umgekehrt, sie brauchen auch eher weichere Sehnen.

Irgendwann könnte es ein wissenschaftlich abgestimmtes Trainingsprogramm für einzelne Sportler geben. „Individuelle Potenzialoptimierung“ nennt das Brüggemann. Die Athleten sollen Höchstleistungen erbringen, ohne sich zu stark zu beanspruchen. Doch so weit ist es längst nicht. Die Grenzen der Leistungsfähigkeit sind weit entfernt. „Man sollte sich mit Prognosen zurückhalten“, sagt Brüggemann, „in manchen Disziplinen sind wir noch auf dem Stand von vor 30 Jahren.“ Die nächsten Weltrekorde könnten im Gewebe liegen.

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