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Fundstücke. Medikamente, Spritzen und eine Kapitänsbinde fischten die Reporter aus dem Müll der Ukrainer.

© Jannik Jürgens / correctiv.org

Fund im Hotel-Müll der Ukrainer: Spritzen und Schmerzmittel bei der EM

Im Müll der ukrainischen Nationalmannschaft haben Reporter des Recherchezentrums correctiv.org Schmerzmittel, Spritzen und Infusionsbeutel gefunden.

In einem Mülleimer vor dem Hotel der ukrainischen Nationalmannschaft hat das Recherchezentrum correctiv.org einen Sack mit 14 Medikamenten, Spritzen und Infusionsbesteck gefunden. Zwischen den Medikamenten lag die Kapitänsbinde mit dem Schriftzug „No to racism – Respect“, die die Spielführer aller Mannschaften bei der EM tragen. Viele Fußballspieler nehmen vor wichtigen Spielen starke Schmerzmittel und Entzündungshemmer. Zum Müll der deutschen Nationalmannschaft war kein Durchkommen.

Wie verbreitet ist der Einsatz von Medikamenten im Fußball?

Bei den Medikamenten fallen sechs verschiedene Schmerzmittel und Entzündungshemmer auf. Sie lassen darauf schließen, dass der Einsatz von Medikamenten im Fußball verbreitet ist. Auf der Liste verbotener Dopingmittel stehen die Präparate nicht. Der Einsatz von Spritzen ist allerdings zum Beispiel im Radsport schon seit fünf Jahren verboten. Dort gilt eine No-Needle-Policy, keine Nadeln ohne klaren medizinischen Zweck.

Bei keinem der gefundenen Medikamente handelt es sich um eine Substanz, die auf der Liste verbotener Dopingmittel steht. Das bestätigt der Sprecher des Kölner Zentrums für präventive Dopingforschung Mario Thevis. Es handelt sich in erster Linie um Entzündungshemmer wie Diclofenac-Natriumlösung und Nimesulid. Außerdem ist Diphenhydramin dabei, ein Antiallergikum, das auch als Schlaf- und Beruhigungsmittel eingesetzt wird. Dazu eine Sorbex-Packung: Kohletabletten, die den Körper entgiften sollen. Außerdem Glucose-Infusionsbeutel. Wie ist diese Mischung an Substanzen zu bewerten?

Verboten ist eine Infusion ab einer Menge von mehr als 50 Milliliter

„Glucose-Infusionen sind nur in Notsituationen sinnvoll“, sagt Perikles Simon, Leiter der Sportmedizin an der Universität Mainz. Verboten ist eine Infusion generell ab einer Menge von mehr als 50 Milliliter (ml). Zudem darf innerhalb von sechs Stunden jeweils nur eine Infusion verabreicht werden. Im Müll der Ukrainer lagen zwei leere 50ml-Beutel Glucose-Infusion.

Dopingexperte Simon kann sich nur wenige Ausnahmesituationen vorstellen, in denen eine solche Infusion angebracht ist: „Das kann für einen Diabetiker gelten, der an Unterzuckerung leidet oder einen Marathonläufer im absoluten Erschöpfungszustand.“ Aber für junge, gesunde Profi-Fußballer?

Der ukrainische Fußballverband wollte sich auf Anfrage von correctiv.org nicht zu dem Fund im Müll des Mannschaftshotels äußern. Auch die ukrainische Anti-Dopingbehörde, die Welt-Anti-Doping-Agentur und die Uefa ließen entsprechende Anfragen unbeantwortet.

Im Müll der Ukrainer fand correctiv.org sechs unterschiedliche Präparate

Neben der Glucose-Infusion fallen vor allem die vielen starken Schmerzmittel auf. Im Müll der Ukrainer fand correctiv.org sechs unterschiedliche Präparate. „Der Begriff Schmerzmittel wäre eine Verharmlosung“, sagt der Heidelberger Pharmakologe Ulrich Schwabe auf Anfrage. „Die Wirkung der Mittel ist entzündungshemmend.“ Schwabe war Mitglied der ersten Freiburger Dopingkommission, die die Vergabe leistungsfördernder Mittel durch Mitarbeiter der Universität Freiburg untersuchte. Er betont, dass die bei den Ukrainern gefundenen Entzündungshemmer ein Nebenwirkungspotenzial haben.

Den Direktor des Instituts für Sportwissenschaft an der Universität Tübingen, Ansgar Thiel, überrascht der offensichtlich massive Einsatz von starken Medikamenten bei der Fußball-Europameisterschaft nicht. Thiel forscht seit Jahren zum Gesundheitsmanagement von Spitzensportlern. „Krank oder gesund ist im Sport keine medizinische Diagnose, sondern die Frage, ob Sport möglich ist oder nicht“, sagt Thiel. „Das medizinische Personal im Sport übernimmt diese Denklogik. Es geht nicht ums Heilen, sondern ums Reparieren.“

Im Spitzensport herrsche eine Kultur des Schmerze

Ein internationales Turnier sei eine solch seltene Gelegenheit, da werde alles getan, um den Körper fit zu halten. „Solange Mittel nicht auf der Dopingliste stehen, haben die Sportler kein Unrechtsbewusstsein.“ Im Spitzensport herrsche eine Kultur des Schmerzes. Schon junge Sportler lernten, dass Schmerz kein Warnsignal sei, sondern überwunden werden muss. „Der Trainer sagt, wann es nicht mehr geht. Nicht der Spieler.“

Bei der WM 2014 in Brasilien schluckten zwei von drei Spielern mindestens einmal im Turnier Medikamente, davon nahmen 40 Prozent vor jedem Spiel etwas. Bei einem Team hatte sogar jeder einzelne Spieler während des Turniers Medikamente genommen. In diesem Team hatte jeder Spieler im Schnitt fast fünf verschiedene Medikamente genommen, schrieb die Fifa in einem Bericht.

Am beliebtesten waren dabei mit großen Abstand verschiedene Schmerzmittel und Entzündungshemmer. Jeder zweite Spieler griff zu diesen Präparaten. Je länger das Turnier dauerte, desto mehr Medikamente bekamen die Spieler. Die Fifa untersucht seit 2002 systematisch, welche Mittel die Spieler bei großen Turnieren nehmen.

Ohne Schmerzmittel können Fußballer manchmal nicht auf dem Platz stehen

Immer wieder wird die Frage diskutiert, ob die Welt-Anti-Doping-Agentur Schmerzmittel nur mit Genehmigung zulassen sollte und alles andere als Doping werten müsste. Schließlich hätten Fußballer ohne Schmerzmittel oft nicht die Chance über ihre normale Leistungsfähigkeit hinaus zu gehen oder könnten teilweise vor Schmerzen gar nicht auf dem Platz stehen. Bislang spricht sich die Welt-Anti-Doping-Agentur gegen eine härtere Kontrolle oder ein Verbot von Schmerzmitteln aus.

Die Autoren sind Reporter des Recherchezentrums Correctiv. Die Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Der Anspruch: In monatelanger Recherche Missstände aufdecken. Wenn Sie Correctiv unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied. Informationen finden Sie unter correctiv.org.

Daniel Drepper, Jannik Jürgens, Jonathan Sachse

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