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Alleskönner. Platini (r.), hier im Finale gegen Spanien, dominierte die EM.

© AFP

EM-Geschichten (6): 1984: Kunst schlägt Sucht

Das EM-Turnier 1984 steht ganz im Zeichen von Michel Platini, der Frankreich zum Titel führt.

Am 8. Juni eröffnen Polen und Griechenland in Warschau die Fußball-Europameisterschaft. Bis dahin blicken wir auf Besonderheiten vergangener Turniere zurück.

Es ist heiß an diesem Abend des 23. Juni 1984 in Marseille. Michel Platini, das blaue Trikot mit der Rückennummer 10 wie immer über der Hose tragend, steht erschöpft auf dem Rasen des Stade Velodrome. Er stemmt die Arme in die Seiten, die Augen starren ins Leere. Verzweiflung spricht aus seinem Gesicht. Frankreich liegt im EM-Halbfinale sieben Minuten vor Ende der Verlängerung 1:2 gegen Portugal zurück. Wieder einmal droht Platini eine Niederlage, wieder einmal scheint ihm der ganz große Erfolg nicht vergönnt zu sein.

Wie 1982, als er mit Frankreich im WM-Halbfinale gegen Deutschland trotz einer 3:1-Führung in der Verlängerung noch nach Elfmeterschießen verliert. Wie 1983, als Platini mit Juventus Turin im Europapokal-Finale der Landesmeister in Athen sensationell 0:1 gegen den Hamburger SV unterliegt – und hinterher sagt: „Ich wäre am liebsten nach 60 Minuten vom Platz gegangen.“

Doch dieses Mal kommt es anders. Frankreich gelingt gegen die Portugiesen in der 114. Minute der Ausgleich. Und dann ist es Platini selbst, der seine Mannschaft ins Finale schießt. Am Fünfmeterraum nimmt er den Ball an, legt ihn sich auf den rechten Fuß und trifft wuchtig zum 3:2-Siegtor. Überglücklich, mit erhobenen Armen und einem erlösten Strahlen im Gesicht, stürmt er über die Außenbahn den halben Platz entlang und versinkt schließlich unter einer Spielertraube in Blau. Frankreich steht im Finale der Europameisterschaft, es ist das erste große Endspiel der französischen Fußballer überhaupt. Und es ist vor allem das Werk eines grandiosen Individualisten.

Neun Tore erzielt der nominell als offensiver Mittelfeldspieler aufgebotene Platini in den fünf Spielen der Endrunde. Stets gelingt ihm dabei der siegbringende Treffer für seine Mannschaft. Gegen Dänemark im Eröffnungsspiel erzielt er den 1:0-Endstand, beim folgenden 5:0 über Belgien die Tore zum 1:0, 4:0 und 5:0. Gegen Jugoslawien im abschließenden Gruppenspiel zelebriert er in nur 18 Minuten einen in seiner Schönheit kaum mehr zu überbietenden Hattrick. Erst markiert Platini mit links das 1:1, dann köpft er im Flug aus elf Metern zur Führung ein – der Treffer wird später in der ARD-Sportschau zum Tor des Monats gewählt – und schließlich schlenzt der Standardspezialist Platini einen 18-Meter-Freistoß kunstvoll zum 3:1 aus dem Stand in den linken Winkel. Nach dem Spiel sagt der französische Torwart Joel Bats: „Unser Dank gilt allein dem Kapitän.“ Nach dem Siegtor im Halbfinale gegen Portugal schießt Platini beim 2:0-Endspielerfolg gegen Spanien das vorentscheidende 1:0, auch wenn diesem Treffer jegliche Schönheit abgeht: Nach einem Freistoß rutscht dem spanischen Torwart Luis Arconada der Ball durch die Arme und kullert anschließend beinahe in Zeitlupe über die Linie.

1984 wird damit endgültig das Jahr des Michel Platini. Mit Ende 20 steht er in der Blüte seiner Karriere. Mit Juventus wird er Meister und holt den Europacup der Pokalsieger. Dazu wird Platini Torschützenkönig in Italien und Europas Fußballer des Jahres. Der Titel mit Frankreich aber ist das Glanzstück seiner Laufbahn. Denn selten hat eine Mannschaft bei einem EM-Turnier derart berauschenden Fußball gezeigt. Das Team von Trainer Michel Hidalgo agiert in der Offensive elegant-verspielt, wie es in den Achtziger Jahren sonst nur Brasilien tut. Dem überragenden Solisten Platini stehen dabei die ebenfalls grandiosen, aber unauffälligeren Alain Giresse, Jean Tigana und Luis Fernandez im Mittelfeld zur Seite. „Le Carré Magique“ – das magische Viereck – wird das Prunkstück der französischen EM-Mannschaft genannt. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ heißt es nach dem Turnier: „Die Kunst des Spielens hat im ständigen Wettkampf mit der Sucht nach Siegen um jeden Preis offensichtlich kräftig aufgeholt.“

Die Weltmeisterkrönung zwei Jahre später in Mexiko bleibt Platini jedoch verwehrt. Nach Siegen gegen Italien und im Jahrhundertspiel über Brasilien wird die Fußballkunst der Franzosen im Halbfinale von Deutschland auf beinahe brutale Weise zerstört. Es ist das Ende einer großen Mannschaft. Platini erklärt ein Jahr später, mit noch nicht einmal 32, seinen Rücktritt.

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