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Philipp Köster.

© Mike Wolff

Kolumne Europareise (12): 9.50 Uhr ab Ostbahnhof

In unserer täglichen Kolumne kommentieren Marcel Reif, Moritz Rinke, Lucien Favre, Philipp Köster und Jens Mühling im Wechsel die EM. Heute beschreibt Philipp Köster, wie er die ganze EM in einem Zug erlebt hat.

An bezahlbare Tickets für die Euro zu kommen, ist für Otto Normalfans bekanntermaßen ein schwieriges Unterfangen. Wer dennoch etwas von der elektrisierenden Stimmung des Turniers im Nachbarland mitbekommen will, greift zum Placebo und besteigt einfach den täglichen Berlin-Warschau-Express um 9.50 Uhr ab Ostbahnhof. Denn in den fünf Waggons, die jeden Tag zwischen den beiden Hauptstädten pendeln, gibt es ein verdichtetes Euro-Konzentrat.

Zu Beginn des Turniers waren es vor allem fröhliche Polen, die in den Abteilen ihre Träume von einem Siegeszug durchs Turnier mit reichlich Alkohol befeuerten. In den fünf Stunden nach Warschau zum Spiel gegen Russland leerte eine polnische Familie, die in Frankfurt/Oder zugestiegen war, vor meinen Augen eine große Kühltasche voller Bier und bis auf die mitgereiste Oma, die kurz nach Posen mit offenem Mund in den Bierhimmel wegdämmerte, gab es keinerlei Ausfallerscheinungen. Stattdessen musste ich mit der Familie über die Auswirkungen der Euro-Krise debattieren und mich für Angela Merkels Sparpolitik rechtfertigen. Ich war froh, als wir Warschau erreichten.

Deutsche Fußballtouristen reisen dagegen mit leichtem Gepäck und kommunizieren mit der polnischen Servicekraft, die ihren Wagen durch die Reihen schiebt, gerne in schlichten Hauptsätzen: „Gibt´s Bier hier?“ Wenn die Dame daraufhin bedauernd die Arme hebt, greift der deutsche Fan zum altbewährten Mittel bei Verständigungsschwierigkeiten. Er spricht einfach lauter: „Ob es Bier hier gibt?“

Manche Nationen scheinen den Zug zu meiden. Kein einziger Franzose, kein Kroate, kein Däne. Dafür aber immerhin ein Engländer, der dadurch unangenehm auffiel, dass er sich eine Stunde auf der einzigen Toilette in Waggon 267 verbarrikadierte, während draußen ältere polnische Damen verzweifelt um Einlass bettelten.

Die irischen Fans wiederum waren während ihrer Zeit bei der Euro nicht nur an den grünen Trikots zu erkennen, sondern auch an ihrer unstillbaren Sangesfreude. Es reichten zwei Iren, die sich im Zug begegneten, schon rissen beide die Arme auseinander und brüllten sich freudig an: „Come on, you boys in green!“ Fanden sich mehr als zwei Iren ein, schwappte die Euphorie endgültig über und alle versicherten sich gegenseitig, dass das Erreichen den Endspiels nur noch Formsache sei. Was am Montag auf der Fahrt nach Posen zum letzten Gruppenspiel, nach zwei Niederlagen und bereits feststehender Abreise von beeindruckendem Optimismus kündete.

Bliebe nur noch der Russe, der auf der Rückfahrt von Warschau an meiner Schulter seinen Rausch ausschlief. Ich drückte ihn stets zurück auf seinen Platz, wollte eigentlich langsam sauer werden, dachte dann aber bei mir: Was soll’s, ist doch Euro.

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