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Hohe Sprünge. Nach einem 1:1 im letzten Gruppenspiel gegen Norwegen stehen die Isländern zwei Spiele vor ihrer ersten WM-Teilnahme.

© AFP

Fußball-WM: „Isländer wollen immer gewinnen“

Erstmals ist für Islands Nationalmannschaft die Teilnahme an einer Fußball-Weltmeisterschaft greifbar nah. Der Autor Jón Kalman Stefánsson über eine historische Chance.

Von Benjamin Apitius

Jón Kalman Stefánsson, lassen Sie uns mit einer kleinen Rechenaufgabe beginnen. Wie viele Menschen besitzen die isländische Staatsbürgerschaft?

Das müssten so ungefähr 350 000 Menschen sein – plus zwei, drei Millionen Geister, die wir aber nicht offiziell dazuzählen.

Wie viele davon sind männlich?

Ich schätze 50 Prozent, also 175 000.

Und wie viele davon befinden sich nun aktuell im besten Fußballeralter?

Das dürften nicht allzu viele sein oder?

Können Sie es also begreifen, dass die isländische Fußball-Nationalmannschaft nur noch zwei Play-off-Spiele von ihrer ersten Teilnahme an einer WM entfernt ist?

Wenn wir so denken würden, dann würden wir ja nie etwas erreichen – weil wir so wenige sind. Aber das Gegenteil ist ja der Fall. Wir wollen immer gewinnen, auch gegen den stärksten Gegner der Welt. Wir leben zwar mitten im Meer auf einem kleinen Stückchen Erde und fühlen uns manchmal vielleicht klein. Aber wir machen immer das beste daraus.

Island brachte aus diesem Gefühl heraus bereits unverhältnismäßig viele Fußballspieler von Weltklasseformat heraus.

Aus unseren Reihen stammen ja auch außergewöhnliche Künstler, Musiker und Schriftsteller. Nur leider keine guten Politiker (lacht). Ich denke, es gibt für jede winzig kleine Nation genau zwei Möglichkeiten. Entweder man ergibt sich in dieser offensichtlichen Unterlegenheit und bleibt für immer klein. Oder man sieht darin eine Stärke und beginnt zu wachsen, unabhängig vom Rest der Welt. Das mag ein wenig ignorant klingen. In unserem Fall bedeutet diese Ignoranz aber durchaus auch eine Form von Freiheit.

Seit 15 Jahren spielte der isländische Spieler des Jahres nicht mehr für einen isländischen Verein. Macht es da noch Spaß, die heimische Liga zu verfolgen?

Ich schaue mehr auf den englischen Fußball und nicht so sehr auf die isländische Liga. Der Held meiner Kindheit war Pat Jennings, Torhüter bei Tottenham Hotspur. Aber mein Sohn hält mich über die hiesigen Ereignisse auf dem Laufenden.

Kommt man als junger Mensch auf Island denn schwer an Fußball vorbei – oder wie vertreibt man sich mitten im Meer am besten die Zeit?

Wir können die Sterne zählen oder Kaffeetrinken. Fußball spielt dennoch eine sehr große Rolle. Aber ich schätze, es sind mehr Isländer in einem Chor als in einem Fußballklub. Scheint so, als könnten wir vom Singen nicht genug bekommen.

In den wenigen Sommermonaten ist es auf Island beinahe 24 Stunden hell. Ein Paradies für fußballverrückte Kinder?

Die Sommermonate meiner Kindheit verbrachte ich stets auf dem Land, da gab es leider immer mehr Arbeit als Zeit zum Fußballspielen. Aber jeden Donnerstag kamen alle Kinder zusammen und spielten Fußball – einige, die nie zuvor gespielt hatten, kamen in ihren schweren Arbeitsstiefeln. Es war herrlich!

Dann kommt der Winter und verschluckt das Sonnenlicht. Was macht man als Kind, das den Fußball liebt, wenn es draußen dunkel wird und „sich die Tage dahinschleppen wie waidwunde Tiere“, wie Sie diese Jahreszeit einmal beschrieben?
Im Winter spielten wir Handball oder Schach. In den letzten 15 Jahren wurden hier aber viele Hallen gebaut, in denen die Kinder nun das ganze Jahr spielen.

„Wenn wir die WM erreichen sollten, dann drehen hier alle durch“

Herr Stefánsson, bei den Olympischen Spielen 2008 gewann die isländischen Handballmannschaft Silber. Am Tag nach dem Finaleinzug rief der isländische Präsident einen nationalen Feiertag aus. Was passiert also am 20. November, am Tag nach dem zweiten Ausscheidungsspiel um die WM-Teilnahme?

Die Tage zwischen dem 15. und 19. November werden intensiv. Wir wissen, dass wir beide Begegnungen verlieren können. Aber wir könnten ja auch eine gewinnen und die andere Unentschieden spielen. Wenn wir die WM erreichen sollten, dann drehen hier alle durch – und wählen Kapitän Eiður Guðjohnsen zum Präsidenten.

Mit wie vielen der 350 000 Isländer dürfte man dann 2014 in Brasilien rechnen?

Das ist schwer zu sagen. Vielleicht ein paar hundert. Aber wer weiß, die Isländer sind sehr empfänglich für Trends, am Ende fahren wir vielleicht zu Tausenden nach Südamerika. Für mich wird es nächsten Juni definitiv nur Fußball geben. Fußball, Fußball und Fußball.

Wissen Sie eigentlich, was im Wortklang der Nachname des isländischen Nationalstürmers Kolbinn Sigthorsson von Ajax Amsterdam auf Deutsch bedeutet?

Nein, aber Kolbinn gehört für mich weltweit zu den besten Angreifern. Genauso unser zweiter Stürmer Alfred Finnbogason, auch sehr erfolgreich in der niederländischen Liga. Aron Johannsson hat sich dagegen für die US-amerikanische Auswahl entschieden. Er wollte nicht die isländische Nummer drei sein, sondern lieber die zwei bei den USA. Das sagt ja wohl genug über unsere Qualitäten, nicht wahr?

Jón Kalman Stefánsson, 49, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands. Sein Werk ist preisgekrönt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien „Das Herz des Menschen“ im Piper-Verlag

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