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Endlich ist es wieder so weit.

© dpa

Essay: Die Stille vor dem Schuss

Der Ball liegt auf dem Punkt, der Schiedsrichter hat die Pfeife im Mund – und die Zeit steht. Ein Essay über eine lange Sekunde.

Aller Anfang ist schwer“, schrieb Goethe auf die Taktiktafel seiner Wanderjahre und begab sich auf die Suche nach den Laufwegen des Glücks, perfektionierte seine Übersteiger zwischen Spiel- und Standbein, die überraschende Wendung und Wortdrehung, wartete auf das Schattenzuspiel der Götter in den Knöcheln der Schreibhand. „Aller Anfang ist schwer!“, wusste er, „das mag in gewissem Sinne wahr sein; allgemeiner aber kann man sagen: aller Anfang ist leicht, und die letzten Stufen werden am schwersten und seltensten erstiegen“.

Der Ball liegt auf dem Anstoßpunkt, der Schiedsrichter hat die Pfeife im Mund, die Lungenflügel aufgebläht, das Publikum hält den Atem an, nur noch einem Moment – aber plötzlich friert die Zeit ein, der Ball verliert aus seinem Ventil 21 Gramm Luft, die Stollen erstarren in ihrem Grasgrab und der Himmel legt sich wie ein flirrendes Stadiondach aus Licht über den Platz und leuchtet die Gesichter aus. Im nächsten Augenblick wird alles anders sein. Bisher war alles denkbar, danach ist alles möglich.

Das Spiel beginnt mit einem Tritt, die Kugel rollt, nichts geht mehr, was jetzt nicht geht. Was nicht von Anfang an geht, geht oft auch später daneben. Der Anfang ist die Platzhälfte des Ganzen, orakelte schon Platon vor Rehhagel, der erste Satz ist entscheidend, auch in der Literatur: „Und Jakob ging immer quer über die Gleise.“

Bis dahin war alles Mutmaßungen, Blechtrommelbolzen, Habe-nun-ach- Gejammere, Seil- und Zeilensprünge, Bleistift- und Feuchtgebiete, Kopfballpendel und Blatterbetrug. Jetzt brennt der Rasen, brennt das Papier von zwei Enden, zwischen den Zeilen in der Tiefe des Raums. Der Anfang ist die Tat. Und für Effenberg hieß jeder Anfang Tätlichkeit. Am Anfang muss man zeigen, wer Herr auf dem Platz ist und wer die Platzhalter sind, am Anfang entscheidet sich, wer das Sprunggelenk ist und wer der Stollen, der es durchbohrt.

Am Anfang läuft man sich die Angst aus den Gliedern – oder läuft an vor Angst. Dann ist der Anfang unerklärlich schwer und so unaufhaltbar wie die unzähligen unsichtbaren Bleikügelchen, die aus den Gedankengängen hinab durch die Venen bis unter die blau gestoßenen Zehennägel knallen.

Oder der Anfang ist leicht, der Ball läuft wie von selbst am Fuß, die Dreiecke drehen sich, Chaos wird Choreografie. Für die einen ist der Anfang ein frühes Tor, ein gelungener erster Abschnitt, der schon alles eingeschrieben hat, was kommt, dem eine Ahnung innewohnt, wie es ausgeht. Für die anderen ist der Anfang, wie es bei Shakespeare heißt, „tot und begraben“.

Nur hat es der Fußballer viel schwerer als der Schriftsteller. Ein guter erster Satz wird erinnert als genialer Startschuss, ein gelungener Anfang bleibt ein gelungener Anfang. Ein Roman kann diese Ballhöhe vielleicht nie mehr erreichen, das Versprochene nicht einlösen, nicht umsetzen, was er sich vorgenommen hat, er kann im Abseits landen und auf ein gutes Ende wie auf Godot hoffen. Egal, wie es ausgeht, der erste Satz bleibt stehen und bestehen, wenn er gut war. Wenn nicht, kann er sagen: Alles auf Anfang. Und es geht von Neuem los.

Ein Fußballteam kann einen Traumstart haben, aber es kann trotzdem ein Albtraumende erfahren und alles Reden vom geglückten Anfang ist Geschwätz von gestern, ist ein Sichhinausreden. Im Fußball kann sich der Ball wie der Wind drehen, kann das Unwahrscheinlichste das wahrscheinlich Schlimmste werden, was man bislang in seinem Fußballerleben erlebt hat. Fußball ist die Möglichkeitsform des Nichtfürmöglichgehaltenen. Wer nach dem Anpfiff das Sagen hatte, kann doch am Ende aus dem letzten Loch pfeifen. Beim Anpfiff steht die Zeit auf Null, beim Abpfiff die Verlierer als Nullen da und vielleicht noch eine glückliche Null als Sieger im anderen Tor.

Aber zurück zum Beginn. Bevor es los geht, geht nichts mehr, das Warten wird von Sekunde zu Sekunde unendlicher, wie der Ball einer Flanke, der fliegt und fliegt und fliegt und alle schauen nach oben und der Torwart schaut nach oben und dann senkt sich der Ball, ganz langsam, viel zu langsam, warum so langsam, er dreht sich, und dann.

Doch noch wissen wir nicht, wie es losgeht, wir können es nur mit Hamlet halten: „Wenn eine Spur mich leitet, will ich finden, wo Wahrheit steckt, und steckte sie auch recht im Mittelpunkt.“ Genau dort liegt der Ball. Was danach kommt, weiß jeder: Anpfiff. Endlich ist es wieder so weit und alle fühlen wir wie Hesse: Allem Anfang wohnt ein Zauber inne. Und hoffen doch bis zum Ende nur eins: Dass Deutschland gewinne!

Der Lyriker, Dramatiker und Romancier Albert Ostermaier, geboren 1967 in München, ist Torwart der Deutschen Autorennationalmannschaft, mit der er im Mai Europameister wurde.

Albert Ostermaier

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