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Stille Tage bei Hertha: Die Gebrüder Boateng (links Jerome, rechts Kevin-Prince) im blau-weißen Berliner Trikot.

© Imago

Exklusiv-Interview: Jerome Boateng: "Kevin hat nicht absichtlich gefoult"

Nationalspieler Jerome Boateng spricht im Interview mit Tagesspiegel-WM-Reporter Michael Rosentritt über seine ghanaischen Wurzeln und die Funkstille zu seinem Bruder, der Ballack umtrat und nun gegen Deutschland antritt.

TAGESSPIEGEL: Herr Boateng, fühlen Sie sich hier in Afrika zu Hause oder geht das zu weit?

JEROME BOATENG: Was heißt zu weit? Ich habe ja ghanaische, also afrikanische Wurzeln. Obwohl es den Menschen hier nicht so gut geht, ob in Südafrika oder im restlichen Afrika, treten sie einem mit großer Herzlichkeit entgegen. Ich bewundere ihre Lebensfreude, die sie sich trotz ihrer nicht immer einfachen Lebenslage bewahrt haben.

TAGESSPIEGEL: Was an Ihnen ist afrikanisch und was deutsch?

JEROME BOATENG: Afrikanisch an mir ist mein Rhythmus, meine Spielfreude, dass ich so unbeschwert spielen kann, so locker. Manches Mal wird mir meine Art als Lässigkeit ausgelegt und kritisiert. Doch ich habe auch eine andere Seite. Deutsch an mir ist, glaube ich, mein Benehmen. Die Pünktlichkeit, die Verlässlichkeit, mein Wille. Da fällt mir noch ein, dass ich sehr gern afrikanisch esse.

TAGESSPIEGEL: Zum Beispiel?

JEROME BOATENG: Fufu – das ist ein fester Brei aus Yams und Kochbananen. Er dient oft als Beilage. Aber es gibt auch ein paar Gerichte, die zu scharf für mich sind. Ich habe in Berlin und Hamburg viele afrikanische Freunde, die – um es einmal salopp zu formulieren – halb-halb sind. Wir gehen gelegentlich essen und hören afrikanische Musik.

TAGESSPIEGEL: Ließe sich die Trennlinie so ziehen: Ihr Herz schlägt afrikanisch, Ihr Kopf dagegen denkt deutsch?

JEROME BOATENG: Eine solche Trennung gibt es nicht. Meine Abstammung spiegelt sich in gleichen Teilen in meinen Gefühlen und Gedanken wieder.

TAGESSPIEGEL: Ihr Vater ist Ghanaer…

JEROME BOATENG: … und ist ganz anders aufgewachsen als ich. Er ist sogar der Prinz seines Stammes der Aduana gewesen, hat aber darauf verzichtet, weil er vor vielen Jahren als junger Mann nach Deutschland gegangen ist.

TAGESSPIEGEL: Trägt er deswegen den Vornamen Prince?

JEROME BOATENG: Genau. In Afrika liegen die Dinge oft ganz einfach. Ich habe viel von meinem Vater mitbekommen. Er war es beispielsweise, der mich als Kind auf ein Michael-Jackson-Konzert mitgenommen hat. So hat er mich an die Musik herangeführt. Dann habe ich die Platten meines Vaters gehört. Überhaupt lief bei uns zu Hause in Berlin viel afrikanische Musik, vor allem ghanaische Musik, also mit viel Trommeln. Wenn du dann langsam groß wirst, merkst du, ob dir das gefällt. Mir hat es gefallen, dieser Rhythmus. Er ist leicht und kräftig zugleich, so anregend, du fühlst dich gut danach.

TAGESSPIEGEL: Haben Sie jemals darunter gelitten, oder wurden dafür gehänselt, dass ein Teil von Ihnen afrikanisch ist?

JEROME BOATENG: So nicht, nein, sondern nur wegen meiner Hautfarbe. Das ist ein Weilchen her, als wir mit Hertha im Osten Deutschlands gespielt haben, oder in bestimmten Ecken in Ostberlin. Da kamen mal ein paar Sprüche. Heute bin ich sehr stolz auf meinen Lebensweg und meine Multi-Kulti-Herkunft mit all ihren Facetten.

TAGESSPIEGEL: Dennoch waren Sie noch nie in der Heimat Ihres Vaters.

JEROME BOATENG: Leider. Mein Vater wollte uns immer mal mitnehmen, allerdings erst, wenn sein Haus fertig sei. Das wurde auch tatsächlich fertig, nur leider genau in dem Winter, als ich bei Hertha BSC kurzfristig zu den Profis hochgezogen wurde.

TAGESSPIEGEL: Das war im Januar 2007…

JEROME BOATENG: … genau. Aber dadurch fiel die Reise aus. Seitdem habe ich nicht die Zeit gefunden. Ich möchte mir aber irgendwann dafür Zeit nehmen, so zwei, drei Wochen. Von allen Seiten ist mir gesagt worden, dass es sich für ein paar Tage nicht lohne.

TAGESSPIEGEL: Wir nehmen mal an, dass Ihre Familie in Ghana sehr groß ist.

JEROME BOATENG: Das kann man wohl sagen, es gibt sehr viele Onkel und Tanten. Leider sind meine Oma und mein Opa väterlicherseits schon gestorben. Aber wissen Sie, ich kann heute meiner Familie etwas zurückgeben. Ich bin ihnen allen sehr dankbar. Meine Eltern haben mich beim Fußball sehr unterstützt, sie haben mich überall hingefahren, wenn es mal sein musste. In Berlin gibt es ja auch ganz schön weite Wege. Jetzt schauen aus meiner Familie natürlich alle nach Südafrika, viele feuern allerdings vor allem Ghana an.

TAGESSPIEGEL: Gegen dieses Team spielt Deutschland nun am Mittwoch ums Weiterkommen. Und da spielt auch Ihr Halbbruder Kevin-Prince, um den es in Deutschland nach dem Foul an Michael Ballack viel Ärger gab. Seitdem herrscht zwischen Ihnen Funkstille.

JEROME BOATENG: Das ist eine sehr persönliche Sache. Ansonsten habe ich alles dazu gesagt. Ich konzentriere mich auf die WM, auf den Fußball. Der Rest ist für mich jetzt erst einmal erledigt.

TAGESSPIEGEL: Sie sagen „jetzt“. Das würde bedeuten, dass es mit der Funkstille zwischen Ihnen beiden nicht so bleiben muss.

JEROME BOATENG: Das kann so sein oder eben nicht. Er ist mein Bruder und bleibt mein Bruder. Ich wünsche ihm wirklich das Beste, aber im Moment ist es halt so, dass wir uns nichts zu sagen haben. Das kommt auch in anderen Familien vor.

TAGESSPIEGEL: Nur spielt sich das nicht wie bei Ihnen in aller Öffentlichkeit ab.

JEROME BOATENG: Und genau das ist ärgerlich. Der Name Boateng hat in der Öffentlichkeit jetzt einen negativen Touch. Aber auch Kevin ist ein Mensch, der Fehler macht. Er hat das nicht mit Absicht gemacht, er wollte Michael Ballack ja nicht die WM nehmen. Dann kann es nicht sein, dass so viele Menschen Seiten im Internet gründen und rassistisch werden. Was meinen Sie, wie viele E-Mails mein Berater erhalten hat, deren Inhalt gegen mich gerichtet ist und rein nichts mit Fußball zu tun hat. Das kann ich nicht verstehen, da werde ich auch wütend.

TAGESSPIEGEL: Sie beide haben denselben Vater. Hat er sich mal als Mittler versucht?

JEROME BOATENG: Nein, mein Vater kennt uns beide. Wir sind alt genug, das selber zu regeln. Er muss sich da nicht einmischen.

TAGESSPIEGEL: Kevin galt lange Zeit als eine Art Leitfigur für Sie.

JEROME BOATENG: Er ist 18 Monate älter. Fußballerisch war er mein Vorbild. Als Jugendlicher galt er von seinen Anlagen als großes Talent, er spielte fast immer einen Jahrgang höher. Ich habe Respekt, dass er das geschafft hat, denn es war nicht immer einfach, wo er aufgewachsen ist.

TAGESSPIEGEL: Das war im rauen Wedding, während Sie im bürgerlichen Wilmersdorf groß wurden.

JEROME BOATENG: Sie sagen es. Wir haben uns immer gut verstanden und viele Sachen gemeinsam erlebt. Ich werde die Zeit mit Kevin auch nicht vergessen. Und wir werden sicher wieder Spaß miteinander haben. Mal gucken, wann.

TAGESSPIEGEL: Es gab bereits Stimmen, wonach das deutsche Team ohne Ballack stärker sei und schneller spiele. Und der Satiriker Wiglaf Droste hat als Dank für das Foul den Kevin-Prince-Boateng-Preis ausgerufen.

JEROME BOATENG: Das ist Blödsinn, dass wir jetzt ohne Michael Ballack stärker sind oder schneller spielen. Michael hat beim FC Chelsea gespielt, einem der besten Vereine weltweit. Natürlich können sich andere zeigen und spielen dadurch vielleicht auch frecher.

TAGESSPIEGEL: Sie wirken bei allem Trubel ziemlich abgeklärt und gelassen.

JEROME BOATENG: Wir beide sind verschieden, wie auch andere Brüder verschieden sind. Wenn die Zeit kommt, wird sich das klären. Jetzt ist es unnötig, sich den ganzen Tag einen Kopf zu machen. Jetzt zählt, dass er sich bemüht für sein Land und ich für mein Land, für Deutschland.

TAGESSPIEGEL: War es für Sie nie eine Frage, für Ghana zu spielen?

JEROME BOATENG: Ich habe absolut nichts gegen Ghana. Nur für mich war immer wichtig, welchen Bezug ich zu einem Land habe. Ich bin zuallererst Deutscher, mit Deutschland habe ich mich mein Leben lang identifiziert.

TAGESSPIEGEL: Und spätestens 2006 hat es richtig Klick gemacht…

JEROME BOATENG: Was meinen Sie?

TAGESSPIEGEL: Während der WM gab es ein Testspiel der Hertha-Junioren gegen die Nationalelf. Sie haben bei Klinsmann und Löw Eindruck hinterlassen.

JEROME BOATENG: Habe ich das? Hat mir der Herr Löw bis heute noch nicht gesagt. Aber einige aus dem Betreuerteam haben mich darauf angesprochen. Weiß du noch, damals bei dem Spiel? Ich erinnere mich noch ziemlich gut. Normalerweise war bei uns Krafttraining angesetzt, was für junge Fußballer nicht so die Welt ist. Doch dann kam unser Trainer zu uns und erzählte was von einem Testspiel…

TAGESSPIEGEL: … das kam damals also überraschend für Sie?

JEROME BOATENG: Aber wie! Plötzlich lagen da Trikots auf unseren Plätzen, und der Trainer sagte: So, wir spielen jetzt gegen die Nationalmannschaft. Wow! Und wissen Sie was, manchmal sagt man ja so als Jugendlicher: Och, der da im Nationalteam ist doch gar nicht so gut. Aber danach waren wir ganz anderer Meinung.

TAGESSPIEGEL: Wer war Ihr Gegenspieler?

JEROME BOATENG: Viele, die haben ja oft gewechselt. Am Anfang waren es Lukas und Miro, dann kamen Kevin Kuranyi und Asamoah rein. Das waren meine Gegner, übrigens Michael Ballack auch. Es war ein superschöner Tag. Ich hab sogar ein Tor gemacht.

TAGESSPIEGEL: Nicht irgendeins: Es war das eine bei sieben Gegentreffern.

JEROME BOATENG: Ja, ich hab das eine Ding gemacht – gegen Lehmann!

TAGESSPIEGEL: Nun spielen Sie selbst für Deutschland und treffen am Mittwoch auf Ghana, das Team Ihres Bruders. Es trägt jetzt sogar Finalcharakter.

JEROME BOATENG: Sie sagen es. Ich hoffe, es wird ein tolles und ein faires Spiel. Ich wünsche mir, dass wir gewinnen, auch wenn ich vielleicht nicht spielen sollte. Ich denke, dass wir gute Chancen besitzen. Aber ich bin überhaupt erst einmal froh, dass ich hier bin. Das bedeutet mir sehr viel.

Das Gespräch führte Michael Rosentritt.

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