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Schalmeien in Netzers Gehörgang.

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WM-Sound: Mundhupen am Kamener Kreuz

Diese Weltmeisterschaft brennt sich durch pausenloses Tröten ins kollektive Gehör ein. Doch auch andere Turniere hatten ihren eigenen Sound. Wir lauschen zurück.

1950 in Brasilien: He did it his way
200 000 waren gekommen, um den Triumph des Gastgebers zu bezeugen. Doch dann traf Alcides Ghiggia und machte Uruguay zum Weltmeister. Ein Seleção-Fan sprang von der Brüstung in den Tod, der Rest verstummte. Der Matchwinner staunte: „Nur drei Männer haben mit einer einzigen Bewegung das Maracanã zum Schweigen gebracht: Frank Sinatra, der Papst und ich.“

1958 in Schweden: Die Fischerchöre
Sie waren die ersten Einpeitscher. „Heja, Sverige!“, skandierten diese Männer mit Flüstertüten im Anschlag – und Tausende machten es nach. Ohne Pause. Was heute als „Atmosphäre“ geschätzt wird, war damals neu und beängstigend. Als Deutschland im Halbfinale gegen Schweden ausschied, machte der Boulevard jenen Schlachtruf verantwortlich, der den Spielern die Nerven geraubt habe. Defätismus mit Folgen: Volvos wurden demoliert, und über Nacht verschwand die beliebte Schwedenplatte von den Speisekarten der Restaurants.

1974 in Deutschland: Jünters Schalmei
Günter Netzer hatte viel Zeit. Wolfgang Overath erhielt den Vorzug, nur im Spiel gegen die DDR durfte „Jünter“ ran. Danach setzte er sich lieber wieder hin – und lauschte dem Getröte von den Rängen. „Es könnten Schalmeien gewesen sein“, romantisierte der heutige TV-Experte unlängst. Doch 1974 war die Renaissance schon vorbei. Tatsächlich handelte es sich um Mundhupen mit Doppeltrichter, die die WM klingen ließen wie einen Rastplatz am Kamener Kreuz.

Hyterische japanische Teenies bei der WM 2002.
Hyterische japanische Teenies bei der WM 2002.

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1982 in Spanien: Die FCKW-M
1974 hatte man noch selbst geblasen, acht Jahre später drückte man nur noch faul auf die Gaströte. Eine für die 80er durchaus typische Dekadenz, und auch ums Ozonloch machte sich noch kein Schwein Gedanken. So übertönte das Geplärre aus der Blechdose den Kieferbruch von Patrick Battiston, den Toni Schumacher im Halbfinale Frankreich-Deutschland brutalstmöglich umnietete. Erst später erfolgte das Verbot. Von Gaströten, nicht von Toni. Man kann nicht alles haben.

1986 in Mexiko: Wenn der Hals rau ist
Wer Urlaub in Ostfriesland macht, will „Moin“ hören, die Schlachtenbummler der WM 86 freuten sich auf ein heißblütiges „Olé“. Soweit die Folklore. Stattdessen drang etwas anderes an ihre Touristenohren und via Fernsehübertragung in die ganze Welt: „Mexico! Mexico! Ra! Ra! Ra!“ Ein heiserer Chant, irgendwo zwischen ersten Mitteilungsversuchen eines Säuglings und dem Balzschrei einer Krähe. Nicht schön, trotzdem unvergesslich. Oder genau deswegen.

Heisere Mexikaner. Jede WM quälte uns auf ihre spezielle, wunderbare Weise.
Heisere Mexikaner. Jede WM quälte uns auf ihre spezielle, wunderbare Weise.

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1994 in den USA: Tal der Ahnungslosen
Die USA hatten keine innige Beziehung zum Fußball, als sie WM-Ausrichter wurden. Also gab es Nachhilfe: Während der Spiele wurde auf der Anzeigetafel erläutert, was auf dem Feld passierte. Dennoch jubelten viele der anwesenden Volllaien, wenn ein Ball über die Latte ging – sie freuten sich über ein aus dem American Football bekanntes Fieldgoal. Eine äußerst indifferente Kulisse war die Folge, selbst Torschreie waren mit Fragezeichen versehen. Gespenstisch.

2002 in Japan und Südkorea: Iiiiiiiiiiiiek!
Ein Turnier wie ein Backstreet-Boys-Konzert. Wenn irgendein kickender Unterhosenbeau an den Ball kam, kreischten sich Kohorten asiatischer Teenies ohnmächtig. Quit playing games with my ears.

2006 in Deutschland: Schland über alles
Diese WM zeitigte den Aufstieg der Modefans – und den Niedergang der Kreativität. „Schland!“, gähnte es ein Sommermärchen lang aus jedem Loch in jedem Gesicht. Dann lieber Vuvuzelas.

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