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Katastrophe: Das Trauma von Hillsborough

Vor 20 Jahren starben im Stadion in Sheffield 96 Zuschauer. Besonders in Liverpool trauern die Menschen immer noch.

Kenny Derbyshire ist ein groß gewachsener Mann. Mit seinen kurzgeschnittenen Haaren und seiner kräftigen Statur sieht er aus, als lasse er sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Am Kragen trägt Derbyshire eine Anstecknadel des FC Liverpool, seines Vereins. Er ist Fußballfan, seit 1981 hat er eine Dauerkarte an der Anfield Road. Fragt man ihn nach seinem wichtigsten Spiel in den vergangenen 30 Jahren, wird er plötzlich ganz ruhig, bevor er dann erzählt. Der Anfang: ein ganz normales Fußballspiel. Es ist der 15. April 1989. Für die Fans des FC Liverpool ein ganz besonderer Tag, denn ihr Verein spielt heute um den Einzug in das Finale des englischen FA-Cups. Schon früh machen sich die Ersten auf den Weg zum Hillsborough-Stadion nach Sheffield, wo das Spiel gegen Nottingham Forest ausgetragen werden soll. Seit Wochen ist die Partie ausverkauft, die Tickets sind hochbegehrt. In der Hoffnung, auf dem Schwarzmarkt fündig zu werden, reisen viele Fans auch ohne Karte an. Die Zahl der Menschen vor dem Stadion steigt rasant und erreicht ihren Höhepunkt gegen 14.30 Uhr.

Eine halbe Stunde vor Anpfiff drängeln sich 10 000 Fußballfans auf engstem Raum und versuchen verzweifelt, in die Nähe der sieben Drehkreuze zu gelangen. Während Polizei und Sicherheitsdienst mit der Lage vollkommen überfordert sind, ist das Stadion schon gut gefüllt. Auch Menschen ohne Ticket werden in Richtung der Eingänge gedrückt, ohne jede Chance, dem Strom zu entfliehen. Der Anpfiff rückt immer näher, mit der Angst, die ersten Spielminuten zu verpassen, wächst auch der Druck auf die Tore vor dem Stadion. Die Masse fordert erste Opfer.

Um den Druck auf die Eingänge zu mildern, entscheidet sich der verantwortliche Polizeidirektor Duckenfield schließlich dazu, das als Ausgang konzipierte „Gate C“ zu öffnen. Durch das Gate, welches nicht wie ein Eingangstor über Drehkreuze verfügt, gelangen hunderte Fans in kürzester Zeit ins Stadioninnere. Ein fataler Fehler, wie sich später herausstellt. Während die Teams schon auf den Platz laufen, strömen immer noch tausende Fans auf die Ränge der überfüllten Liverpooler Fankurve. Obwohl die Polizei Bedenken hat, pfeift der Schiedsrichter die Partie pünktlich um 15 Uhr an, die Aufmerksamkeit der Menschen gilt nun völlig dem Spielfeld.

Fans, die nun in den Block strömen, merken nicht, welche dramatischen Szenen sich im unteren Teil der Tribüne abspielen. Durch den Druck von oben werden die Menschen gegen Gitter und Zäune gepresst, ringen nach Luft, kämpfen ums Überleben. Die ersten Fans sind bereits tot, sie sterben aufrecht stehend an Kreislaufversagen oder Atemstillstand inmitten ihrer Freunde. Bemerkt wird dies zuerst nur von den direkt Umstehenden.

Erst als es den ersten Fans gelingt, über den Zaun auf das Spielfeld zu klettern, wird der Ernst der Lage erkennbar. Schließlich bricht der Zaun. Auf Anweisung der Polizei wird das Spiel in der sechsten Spielminute unterbrochen. Während die Fans im oberen Teil der Blöcke nun auf die immer noch halb leeren Nebenblöcke ausweichen, ist der Druck im unteren Teil des Mittelblocks zu hoch für den Zaun – schließlich bricht die massive Eisenabsperrung einfach weg. Nach Atem ringend strömen Menschen auf das Spielfeld, teilweise mit schweren Quetschungen. Fans leisten ihren Freunden Erste Hilfe, doch für viele kommt jede Hilfe zu spät. 94 Menschen sterben am 15. April 1989 im Hillsborough-Stadion, 766 erleiden zum Teil schwere Verletzungen. Vier Tage später erliegt der 14-jährige Lee Nicols im Krankenhaus seinen Verletzungen.

Die endgültige Opferzahl von 96 wird im März 1993 erreicht, als nach vierjährigem Koma Tony Bland im Alter von 22 Jahren stirbt. Neben physischen Verletzungen sind Überlebende bis heute traumatisiert, das Hillsborough-Desaster ist Grund zahlreicher Suizide. Kaum eines der Opfer war über 30 Jahre alt, viele von ihnen waren Kinder. Als jüngstes Opfer starb Jon-Paul Gilhooley im Alter von nur zehn Jahren. Jon-Pauls Cousin spielt heute selbst als Profi beim FC Liverpool: Steven Gerrard erzählt in seiner 2006 erschienenen Autobiografie, dass seine gesamte Karriere dem toten Cousin gewidmet ist.

Bis heute beeinflusst die Katastrophe das Leben der Menschen in Liverpool und sogar in ganz England. Auch wenn als Ursache des Desasters totales Versagen der Polizei und der Ordnungskräfte festgestellt wurde, sollte das Ereignis auch die Stadien für immer verändern. Mit dem „Taylor Report“ wurden 1990 erste Maßnahmen vorgestellt, durch die der Fußball sicherer werden soll. Nach den Untersuchungen unter der Leitung von Lord Taylor of Gosforth wurden alle Stehplätze abgeschafft, so dass man jedem Besucher einen Sitzplatz zuweisen konnte. Auch die Zäune im Stadioninnenraum, von denen viele sogar mit Stacheldraht ausgestattet waren, wurden verboten. Kurz darauf übernahmen der Weltverband und der europäische Verband diese Regelungen; deshalb werden auch in deutschen Stadien bei internationalen Spielen nur noch Sitzplätze angeboten.

Kenny Derbyshire ist heute Vorsitzender der „Justice for the 96“-Kampagne. Die Organisation wurde kurz nach der Katastrophe gegründet, hilft den Hinterbliebenen der Hillsborough-Opfer und kämpft für Gerechtigkeit. „Bis heute hat niemand Verantwortung übernommen“, sagt Derbyshire.

In einem Laden gegenüber dem Stadion hat die Kampagne Quartier bezogen. Viele Fans kommen vor oder nach dem Spiel vorbei, die meisten spenden etwas und holen sich ein paar Aufkleber ab: „Don’t buy ,The Sun‘“ steht auf ihnen. Die Boulevardzeitung „Sun“ wird seit der Katastrophe boykottiert. Auslöser war ein Artikel unter dem Titel „The Truth – Die Wahrheit“. Darin behauptete die Zeitung, betrunkene Fans hätten Rettungskräfte angegriffen, die den Opfern zur Hilfe eilen wollten. Ein – natürlich namentlich nicht erwähnter – Polizist wurde mit dem Satz zitiert, ein totes Mädchen sei missbraucht worden. Und Liverpooler Fans „urinierten öffentlich auf die Leichen“.

Es folgte ein Aufschrei der Empörung. Viele, die Freunde oder Familienangehörige verloren hatten, mussten lesen, dass sie angeblich auf Leichen uriniert und diese bestohlen hätten. Zeitungshändler weigerten sich, die „Sun“ zu verkaufen, die Auflage fiel im Großraum Liverpool von 400 000 auf 12 000 Exemplare – auf diesem Niveau liegt sie dort immer noch. Denn bis heute entschuldigte sich der Autor des Artikels nicht bei den Fans.

Die Katastrophe hat die Menschen und den Fußball verändert. Im Wappen des FC Liverpool wurden zu Ehren der Opfer zwei Flammen hinzugefügt, und vor dem Denkmal am Anfield Road Stadion liegen, auch 20 Jahre nach der Katastrophe, jeden Tag noch frische Blumen und Fanschals aus aller Welt. Auch Kenny Derbyshire besucht das Denkmal regelmäßig. 22 Tage nach der Katastrophe 1989 gewann der FC Liverpool das Wiederholungsspiel 3:2 und wenig später durch ein 3:2 auch den FA Cup gegen Everton. „So richtig freuen konnten wir uns über den Titel aber eigentlich nicht“, sagt Kenny Derbyshire.

Am Mittwoch wird in Liverpool der Opfer gedacht. Ab 15.06 Uhr wird zwei Minuten lang das Leben stillstehen, nur die Glocken der beiden Kathedralen werden dann zu hören sein.

Erinnerungen an eine Tragödie.

Jannik Pentz

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