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Sport: Gestörte Harmonie

Werder Bremen verabschiedet sich von einer Tugend: der Gelassenheit

Vor dem Spiel gegen den VfB Stuttgart zitierte der Stadionsprecher des SV Werder aus britischen Zeitungen. Sie waren voll des Lobes über den Auftritt der Bremer am vorigen Dienstag in der Champions League. Doch nicht die Mannschaft hatte beim 0:2 an der Stamford Bridge beeindruckt, sondern die 3000 nach London gereisten Werder-Fans. Nach diesem Ritterschlag durch die englische Presse verbietet es sich, dem Bremer Publikum Ungeduld vorzuwerfen. Umso schwerer wog die Reaktion am Samstag nach dem 2:3 gegen den VfB Stuttgart. Die Stimmung gegenüber der Mannschaft glich der einer Anti-Hartz- IV-Demo gegenüber den verantwortlichen Politikern.

Fast wie von selbst haben die Bremer in den vergangenen Jahren das Publikum mit Traumfußball verzaubert. Der Erfolg kam 2004 mit der Meisterschaft so plötzlich, dass in Bremen die Angst tief sitzt, das Fußballmärchen könnte ebenso schnell enden. Tatsächlich befindet sich Werder derzeit in einer heiklen Phase. Nach dem Weggang des Regisseurs Johan Micoud steht die Mannschaft im Umbruch, wirkt noch führungs- und einfallslos. Hinzu kommt die körperliche Verfassung der Nationalspieler, die einen wichtigen Teil der Saisonvorbereitung verpasst haben und denen auch jetzt keine Pause gegönnt wird. In zehn Tagen kommt der FC Barcelona nach Bremen, dann folgen Bundesliga, Länderspiele und Europapokal. „Unsere WM-Fahrer sind noch nicht fit“, sagte Sportdirektor Klaus Allofs. „Auch wenn sie teilweise etwas anderes behaupten.“ Doch in Bremen scheint derzeit mehr im Argen zu liegen als allein die Fitness. „Die Müdigkeit nach der WM ist nur ein kleineres Problem“, sagte Kapitän Frank Baumann. Er vermisste „Ordnung, Bewegung, Kompaktheit“.

Die sportliche Führung, die sich bisher durch Gelassenheit auszeichnete, wirkt zunehmend aktionistisch. Für das Spiel in Chelsea wurde der Däne Daniel Jensen aus dem Kader gestrichen, auch gegen Stuttgart saß er nicht auf der Bank – stellvertretend für alle anderen Reservespieler, die hinter den Ansprüchen zurückbleiben: Owomoyela, Schulz, Almeida. Insgesamt dringen aus Bremen derzeit alles andere als harmonische Töne nach außen. Im Anschluss an das Ligaspiel auf Schalke vor drei Wochen gerieten vor der Kabine Allofs und Owomoyela aneinander. Vordergründig ging es um die Frage, wer den Koffer mit der Schmutzwäsche zum Bus trägt, eigentlich aber um Hierarchien und Unzufriedenheit in der Mannschaft. Nach der Pokalblamage in Pirmasens kritisierte Allofs dann jene Spieler aus der zweiten Reihe für ihren mangelnden Einsatz. Zuletzt trat Miroslav Klose an die Öffentlichkeit und warf dem Kollegen Klasnic indirekt fehlende Motivation vor. Und Trainer Thomas Schaafs Auswechslungen wirken nicht erst seit Samstag mitunter hilflos. So brachte er gegen Stuttgart Stürmer Hunt für Verteidiger Pasanen ins offensive Mittelfeld, zog den bis dahin besten Bremer Baumann in die Abwehr, nur um wenig später in Schulz einen linken Verteidiger für Mittelfeldspieler Borowski und in Owomoyela einen rechten Verteidiger für Linksverteidiger Womé ins Spiel zu bringen. Am Ende war die Mannschaft eher verwirrt als gestärkt.

Die derzeitige Situation ist nicht zuletzt deshalb so schwierig, weil sie neu ist. An vier Niederlagen in Folge kann sich Torhüter Tim Wiese allenfalls aus Kaiserslauterer Zeiten erinnern. „Mit Werder kenne ich das gar nicht.“ Bei der letzten Heimniederlage nach einer 2:0-Führung war Tim Wiese übrigens noch nicht geboren. Es war ein 3:6 gegen Kickers Offenbach, anno 1974.

Steffen Hudemann[Bremen]

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