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Sport: Gesundheitsschäden nach Plan

Die DDR-Dopingopfer werden entschädigt – die Schmerzen einer Katarina Bullin kann das nicht mehr heilen

Berlin - Sie will vorsichtig beginnen mit dem Morphium. Eine geringe Dosis erst und auch nur nachts. Morphium kann süchtig machen, davor hat Katarina Bullin Angst. Sie war alkoholabhängig und tablettensüchtig, sie braucht nicht noch eine Abhängigkeit. Aber ohne Morphium geht es jetzt eigentlich nicht mehr. „Die Schmerzen“, sagt sie, „sind zu stark.“ Ihr Arzt hatte das Morphium empfohlen. „Frau Bullin“, hatte er vor drei Tagen gesagt, „Sie müssen mal zur Ruhe kommen.“

Katarina Bullin schläft nicht langsam ein, sie sackt weg. Dann ist die Erschöpfung stärker als das furchtbare Brennen in den Knien, in der rechten Schulter, in den Gelenken oder in der linken Kopfhälfte. Wenn sie lange schläft, sind es 90 Minuten. Nach 90 Minuten zwingt sie sich, wach zu werden. Dann sind ihre Hände weiß, weil sie nicht mehr durchblutet werden. Die 47-Jährige hat auch Probleme mit der Halswirbelsäule. Sie muss die Hände dann lange schütteln, bis Blut zurückfließt. Es gibt Nächte, da weiß sie nicht, wo es am meisten schmerzt. „Im Moment“, sagt sie, „weiß ich nicht mehr, wie es weitergehen soll.“

Katarina Bullin ist eine große, fast breitschultrige Frau. In einem Café führt sie vor, wie sie die Tasse zum Mund führen muss. Sie führt den Ellenbogen ganz nah am Körper zum Gesicht, anders geht es nicht. Wenn ihre Knie, in denen die Kreuzbänder und die Menisken kaputt sind, zu sehr schmerzen, geht sie rückwärts Treppen runter. Sind die Schmerzen erträglich, geht sie seitwärts. Auf Beton tut jeder Schritt weh, weil in ihrem linken Fuß auch noch Verkalkungen am Knochen sind. Am liebsten fährt sie Fahrrad, das geht am besten. Die Pedale tritt sie mit den Fersen.

Katarina Bullin ist ein Opfer des DDR-Dopings. Sie hat Schmerzen, sagt sie, „bei denen andere längst zusammengebrochen wären“. Sie hat Schmerzen schon lange akzeptiert, seit Jahrzehnten, sie sind ein Teil ihres Lebens. Deshalb hält sie länger durch als andere. Deshalb aber ist sie überhaupt nur in dieser Situation. Sie gehört zu den am stärksten betroffenen Opfern, das weiß sie seit vier Jahren. Da hat sie erstmals ihre Akten studiert. „Danach ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Am liebsten hätte ich zu einem Baseballschläger gegriffen.“

Und jetzt fühlt sie sich erneut als Opfer. Der Deutsche Olympische Sportbund will 180 Dopingopfern jeweils 9250 Euro als Entschädigung bezahlen. Entschädigung, da lacht Katarina Bullin bitter auf. Sie ist Hartz-IV-Empfängerin, das Geld würde auf ihre Sozialhilfe angerechnet, sie dürfte nur knapp 1000 Euro behalten. Das hat ihr Rechtsanwalt am Freitag ausgerechnet. „Nur wenn der Betrag als Schmerzensgeld deklariert wird, darf sie alles behalten“, sagte er.

Die Dramatik im Fall Bullin erwächst nicht aus knüppelhartem Training, den bis zu 50 Stunden in der Woche, in der die junge Volleyballerin geschunden wurde. Nicht einmal die Anabolikapillen allein sind es. Das alles haben andere auch erlitten. Katarina Bullin war zu gut, das wurde zu ihrem Problem. Mit 15 Jahren spielte sie für Dynamo Berlin im Europapokal, sie war Nationalspielerin, Vize-Europameisterin 1979, Olympiazweite 1980, eine Vorzeige-Mittelblockerin. So jemand durfte nicht ausfallen. Drei Jahre lang, zwischen 1977 und 1980, klagte sie über extreme Schmerzen in ihrer rechten Schulter, Folgen der enormen Belastung. Nachts wurde sie deswegen an ein Stromgerät angeschlossen. Doch ihr Heimtrainer sagte zynisch: „Wenn du das nicht aushältst, bist du eine Memme.“ Und die Dynamo-Ärzte verkündeten achselzuckend: „Da ist nichts.“ Bullin trainierte weiter, durchdrungen von Selbstzweifeln und Selbstvorwürfen. Schließlich hatte ihr Trainer sie auch angebrüllt: „Wenn du nicht mitziehst, schadest du der Mannschaft.“ Das wirkte.

Katarina Bullin wollte funktionieren. Sie wusste nicht, dass die längst zum Werkzeug eines Medaillenplans geworden war. Bullin hätte längst operiert werden müssen, das war den Ärzten klar. Doch das DDR-Frauenteam sollte 1980 bei Olympia Bronze gewinnen, das ging nur mit Bullin. Und deshalb fiel, laut Stasi-Akte, der „Entschluss zu konservativem Vorgehen bis zu den Spielen. Training unter Beschwerden.“ Beteiligt an der Entscheidung, laut Akte: zwei Trainer, drei Ärzte. Gegen die Schmerzen gab es Tabletten und Spritzen.

1979 knickte die Mittelblockerin mit dem linken Fuß um. Der Mittelfuß war zweimal gebrochen und hätte geschient werden müssen. Aber damit wäre sie für die EM ausgefallen. Also legte man nur einen Gips. Damit trainierte Bullin weiter. „Schmerzen“, sagt sie, „hieß für mich Spritzen und Training.“ Und ohne Anabolika hätte sie nie die Kraftübungen machen können, die ihre Knie zerstörten.

Erst nach den Olympischen Spielen wurde Bullin zwei Mal an der Schulter operiert. Nach der ersten OP legte man ihren gesamten Oberkörper in Gips, sie trainierte weiter. „Ich fuhr zum Beispiel Fahrrad.“ Am 9. September 1981 trat sie vor die Ärztekommission des Klubs. Eine dritte Schulter-OP drohte, das hätte bedeutet, dass man ihr eine Prothese hätte einsetzen müssen. „Sie sind leistungssportuntauglich“, urteilten die Ärzte. Katarina Bullin hatte zu der Zeit acht Operationen hinter sich. Ihr Heimtrainer reagierte auf das Karriereende mit einer vernichtenden Anklage: „Du lässt die Mannschaft im Stich.“ Für ihn war es nur ein Satz, für die Spielerin ein brutaler Stich ins Herz. „Das hat verdammt wehgetan. Ich habe mir enorme Vorwürfe gemacht.“ Sie war unfähig, sich als Opfer zu betrachten, sie fühlte sich als Verräterin, abgeschoben auf eine Verwaltungsstelle bei Dynamo. Sie quälte sich mit Selbstvorwürfen, begann zu trinken und griff zu immer mehr Medikamenten.

Alkohol, Tabletten und die Selbstzweifel waren die Konstanten in einer Welt, die sich nach der Wende rasend schnell veränderte. Nur Katarina Bullin stand noch allein da mit ihren Schmerzen und der Frage: Warum werde ich nicht gesund? Sie arbeitete, ohne Ausbildung, mit behinderten Menschen, und sie trank. Am 8. März 1993 zertrümmerte sie im Rausch ihre Wohnung. Am nächsten Morgen wachte sie zwischen kaputten Möbeln auf und wusste: „Gosse oder aufhören zu trinken.“ Mühsam, in einer Einzeltherapie, löst sie sich vom Alkohol. Seither ist sie trocken. Aber die Nächte, in denen sie „oft weinte“, hörten nicht auf. Noch immer hatte sie keine Antwort auf ihre Qualen. „Als Dopingopfer fühlte mich immer noch nicht.“

Erst 2002 beschaffte sie sich ihre Stasi-Akten, der Dopingopferhilfe-Verein gab ihr den Tipp. Dann erkannte sie die Wahrheit, dann hatte sie die Antworten auf ihre Fragen. Und jetzt erst lernte Katarina Bullin, dass sie keine Schuldgefühle mehr haben musste. Nachts, wenn sie mal wieder nicht schlafen konnte, schoss ihr durch den Kopf: „Meine kaputte Schulter haben sie nicht drei Tage verschwiegen, nicht drei Monate, es waren drei Jahre.“ Auch die Probleme mit ihrem linken Fuß sind ja Folgen der mangelhaften Behandlung.

Katarina Bullin arbeitet mit einer Psychologin intensiv die Vergangenheit auf. Dann, sagt sie, „muss ich unheimlich viel weinen. Aber ich merke, wie viel Wut noch hochkommt.“ Sie hat 13 Operationen hinter sich. Die nächste steht bevor.

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