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Sport: Große Abschiedsvorstellung

Sabine Braun gewinnt EM-Silber im Siebenkampf und wird von den Fans endlich gefeiert

Von Frank Bachner

München. Vorsichtig zupfte Sabine Braun an der schwedischen Flagge, die sich Carolina Kluft weinend um die Schultern gelegt hatte. Fast schüchtern versuchte die Deutsche, den Arm der jungen Schwedin hochzuheben. Carolina Kluft reagierte nicht. Sie war gerade Europameisterin im Siebenkampf geworden, mit 6542 Punkten und Junioren-Weltrekord, die 19- Jährige war überwältigt. Vorsichtig, als hätte sie zerbrechliches Glas in der Hand, zog Sabine Braun den Arm von Kluft nach oben.

Spätestens da war klar, dass etwas Bewegendes für Sabine Braun geschehen war. Zum ersten Mal leitete sie eine Inszenierung ein, die übers bloße Vorzeigen einer Flagge hinausging. Sabine Braun, die erfolgreichste deutsche Mehrkämpferin aller Zeiten, nahm Abschied. Sie hatte noch einmal Silber gewonnen mit 6343 Punkten, aber das war nur das Sahnehäubchen zu einem besonderen Abschied. Die eigentliche Party hatte mit dem Silber wenig zu tun. Auf der eigentlichen Party feierte man das fragile sportliche Gesamtkunstwerk Sabine Braun. Die Konkurrentinnen waren nur die Kulisse für eine grandiose Abschiedsvorstellung. Standing Ovations prasselten auf die 37-Jährige nieder, es war eine Stimmung, bei der Männer weinen können. Es schien, als würde der ganze Beifall, den sie sich in vielen Jahren verdient, aber nie gehört hatte, in diesen Sekunden auf sie niedergehen.

„Es ist unglaublich, dieses Publikum ist der Wahnsinn“, sagte Sabine Braun. Eine Sabine Braun sagt: „Wahnsinn.“ Das allein zeigt schon die ganze Rührung, die sie empfand. Noch nie haben sich Fans und Sportlerin so nahe gestanden. Immer gab es diese tiefe emotionale Kluft zwischen Sabine Braun und der Öffentlichkeit. Diese Kluft konnten auch zwei Weltmeister- und zwei Europameistertitel sowie eine Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen 1992 nicht zuschütten. Sabine Braun war zu schüchtern, zu spröde, zu zurückhaltend, als dass sie wirklich gebührend bemerkt worden wäre. Ihre damalige Trainerin Gertrud Schäfer bläute der Industriekauffrau Braun schon vor der WM 1993 mühevoll ein, dass Braun bei Interviews mehr als bloß „Ja“ und „Nein“ sagen solle. Es half nicht viel, allerdings auch, weil Gertrud Schäfer durch eine fast gluckenhafte Fürsorge die Entwicklung der erwachsenen Sabine Braun eher bremste als förderte. Braun meldete sich etwa aus Mallorca, wo sie alleine war, verzweifelt bei ihrer Trainerin, weil sie sich verlaufen hatte.

Aber es gab auch die extrem willensstarke Athletin, die verbissen trainierte, die einen Siegeswillen besaß, der anderen fehlte, und die mit bemerkenswerter Energie Schicksalsschläge überwand. Sie litt entsetzlich unter einem tragischen Todesfall in ihrer Familie, aber sie gab nicht auf. Mit einer Zielstrebigkeit, die nie richtig gewürdigt worden ist, trainierte sie weiter und hielt sich in der Weltklasse. Und als sie sich vor wenigen Jahren von Gertrud Schäfer trennte, da wirkte sie ein bisschen selbstbewusster.

Aber das Bild von ihr war zu gefestigt, als dass sie es noch hätte ändern können. Wahrscheinlich wollte sie es gar nicht. „Ich freue mich auf den Herbst, wenn alles vorbei ist“, sagte sie vor der EM. Das klang glaubhaft. Und wahrscheinlich hatte sie einen Wunsch, den sie natürlich nie formuliert hätte: Die Fans mögen ihr einen schönen Abschied bereiten. Die Fans taten es gerne. Und Sabine Braun streifte sich ein T-Shirt über: „Danke an dieses tolle Publikum.“ Das Publikum dankte seinerseits - einer großen Athletin.

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