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Lucio

© dpa

Hertha: Brasilianischer Mehrwert

Solide und nicht verschroben: Hertha BSC setzt bei seinen Südamerikanern jetzt auf andere Qualitäten als früher.

Manchmal wundert sich selbst der Experte noch. Rudi Wojtowicz fliegt regelmäßig beruflich nach Brasilien, er arbeitet als Chefscout für den Berliner Fußball-Bundesligisten Hertha BSC, und gelegentlich erwartet er bei seiner Abreise nicht allzu viel. Weil Wojtowicz schon vorher weiß, dass wieder etliche Fußballer das Land verlassen haben: nach Europa, nach Mexiko und mittlerweile auch nach Japan. Dann aber sitzt Wojtowicz irgendwo in Brasilien in einem Stadion auf der Tribüne und „staunt, wie viele interessante und gute Spieler wieder auf dem Platz stehen“. Für Talentsucher wie Wojtowicz ist Brasilien so etwas wie das gelobte Land. Für Hertha inzwischen wieder mehr denn je.

Drei brasilianische Spieler – Gilberto, Mineiro und seit einer Woche auch Lucio – stehen derzeit bei den Berlinern unter Vertrag, und wenn es nach dem neuen Trainer Lucien Favre ginge, dürften es ruhig noch mehr sein. Die Berliner bemühen sich derzeit um den brasilianischen Stürmer Raffael vom FC Zürich, Favres früherem Klub. Herthas Trainer ist dafür bekannt, dass er den brasilianischen Fußball schätzt. Nach ihrem Sieg bei der Copa America äußerte sich der Schweizer äußerst wohlwollend über die Selecao: „Die Argentinier kennen nur ein Tempo, die Brasilianer können es auch variieren.“ Favre hat schon bei Yverdon-Sports, seiner ersten Trainerstation im Profifußball, mit etlichen Brasilianern zusammengearbeitet; mit ihnen kann er seine Idee vom technisch anspruchsvollen Fußball am schnellsten umsetzen.

Da trifft es sich, dass Herthas jüngere Geschichte ebenfalls eine starke brasilianische Komponente hat. Hertha do Brasil wurde der Verein sogar zeitweise genannt. Mit brasilianischen Spielern haben die Berliner umfangreiche Erfahrungen gesammelt – es waren nicht nur gute. „In der Nachbetrachtung sieht man nur die Probleme“, sagt Manager Dieter Hoeneß.

Gerade weil es angesichts des immensen Angebots so einfach ist, in Brasilien gute Spieler zu finden, besteht die Gefahr, gravierende Fehler zu begehen. Legendär ist der Brief eines Dortmunder Fans, es müsse wohl zwei Brasilien geben: eins, in dem Bayer Leverkusen seine Spieler kaufe, und ein zweites, in dem Borussia Dortmund sich bediene. Leverkusen besitzt von allen deutschen Klubs traditionell die besten Kontakte nach Brasilien. Rudi Wojtowicz hat 1999 zum ersten Mal den brasilianischen Markt sondiert. Als er damals ins Flugzeug stieg, wusste er kaum mehr, als dass er in Rio am Flughafen von einer Kontaktperson abgeholt werden würde. Wojtowicz verstand die Sprache nicht, vor allem aber war er mit den Gepflogenheiten nicht vertraut. „Heute würde ich vieles anders machen“, sagt er.

Von seiner ersten Dienstreise nach Brasilien brachte Herthas Scout Alex Alves mit nach Berlin. 15 Millionen Mark zahlte Hertha im Winter 1999/2000 für den Stürmer. Alves’ Verpflichtung sollte auch ein Signal an die Außenwelt sein: Seht her, wir haben jetzt auch unseren Brasilianer. Es war das Jahr, in dem Hertha in der Champions League spielte.

Am Ende wurde Alves nicht zur Symbolfigur für Herthas unaufhaltsamen Aufstieg, sondern für die wenig erquickliche erste brasilianische Ära des Klubs, für Eskapaden und generelle Fehleinschätzungen. Aus dieser ersten Ära hat nur Marcelinho (2001 bis 2006) die Erwartungen erfüllt. Alves, der sich der Integration in Berlin erfolgreich widersetzte, fiel vor allem durch sein divenhaftes Verhalten auf. Nené (2002/03), ohne Zweifel eine menschliche Bereicherung für Herthas Kader, bestritt wegen großer Verletzungsprobleme nur zehn Spiele für die Berliner, und auch das Engagement des Weltmeisters Luizao (2002 bis 2004) erwies sich als unerfreuliches Missverständnis: Der Stürmer, den Mitgliedern im Sommer 2002 mit großem Bohei präsentiert, erzielte in 26 Bundesliga-Spielen vier Tore.

Als Hoeneß im Frühjahr 2003 bei der Mitgliederversammlung den Verkauf von Alex Alves verkündete, wurde diese Nachricht mit großer Genugtuung registriert. Selbst Hoeneß hatte die Lust an brasilianischen Fußballern verloren, heute sagt er, der Verein habe damals Erfahrungen gemacht, von denen er jetzt profitiere. Bei der Verpflichtung von Lucio, Herthas siebtem Profi aus Brasilien, zum Beispiel „haben wir sehr stark auf seine Persönlichkeit und seinen Charakter geschaut“.

Das ist prägend für die zweite brasilianische Ära in Berlin, die 2004 mit der Verpflichtung Gilbertos begann. Hertha sucht jetzt Fußballer, wie sie auch der neue brasilianische Nationaltrainer Carlos Dunga schätzt: reife, solide Spieler, verlässlich, nicht verschroben. Der sportliche Mehrwert ist immer noch entscheidend für einen Transfer, „aber wir schauen jetzt auch auf andere Dinge“, sagt Rudi Wojtowicz. Wenn er in Brasilien ist, bemüht er sich darum, die Spieler, die für Hertha infrage kommen, auch privat kennenzulernen: das Umfeld, die Familie, die Herkunft, die Ausbildung. Wojtowicz kann mittlerweile auf seinen immensen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Seit 1999 reist er nach Brasilien, meist zweimal im Jahr, jeweils für einen, bei Bedarf auch für zwei Monate. „Inzwischen kann ich einschätzen, wie die Verbindungen sind, mit wem ich sprechen muss, auf wen ich mich verlassen kann“, sagt er. „Ich muss nicht mehr über die Mitläufer gehen, die bei Transfers mitverdienen wollen. Je mehr Leute mitmischen, desto teurer wird es für den Verein.“

Die Summe, die Hertha 1999 für Alex Alves gezahlt hat, ist bis heute unerreicht. Herthas Rekordeinkauf liebte die schrillen Auftritte, doch längst ist es still um ihn geworden. Anfang des Monats ist Herthas erster Brasilianer für kurze Zeit nach Deutschland zurückgekehrt. Ein Anwalt aus Aachen hatte ihn an den Bundesliga-Absteiger Alemannia vermittelt, wo sich der inzwischen vereinslose Alves fit halten wollte. Von fit halten aber konnte gar keine Rede sein. Das Lauftrainingslager der Alemannen verließ Alex Alves schon nach zwei Tagen. Er war den Anforderungen nicht gewachsen.

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