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Niemand spielt, nur weil er jung ist. Jos Luhukay (links) hält viel von Nico Schulz, aber aufdrängen muss dieser sich schon selbst.

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Hertha BSC und der Nachwuchs: Drei Sterne und viele Fragezeichen

Hertha BSC bildet sich viel ein auf den eigenen Nachwuchs. Doch beim VfB Stuttgart, dem Bundesliga-Gegner am Samstag, ist die Wertschätzung für den Nachwuchs deutlich höher ausgeprägt.

Nico Schulz hat es am vergangenen Wochenende wenigstens zum Coverboy gebracht. Der U-21-Nationalspieler zierte den Titel des Stadionheftes von Hertha BSC für das Heimspiel gegen den VfL Wolfsburg. Im Inneren des Magazins gab es auch noch ein langes Interview mit Schulz, in dem er sich unter anderem lobend darüber äußert, wie toll es sei, dass Hertha einen Trainer habe, der „uns Spielern aus dem eigenen Nachwuchs das Vertrauen gibt und uns spielen lässt“. Dummerweise stand Schulz gegen Wolfsburg gar nicht im Kader, und auch sonst hatte es kein Spieler aus dem eigenen Nachwuchs in die Startelf geschafft.

Im Land der Nachwuchsleistungszentren ist das schon fast ein Alleinstellungsmerkmal. Bei Hertha kam es in dieser Saison bereits siebenmal vor.

Hertha BSC bildet sich traditionell einiges auf die Nachwuchsarbeit ein, doch die Fakten sprechen eine andere Sprache, zumindest in dieser Saison. Trainer Jos Luhukay hat bisher sechs Spieler eingesetzt, die in der vereinseigenen Akademie ausgebildet sind: Änis Ben-Hatira, Nico Schulz, John Anthony Brooks, Fabian Holland, Hany Mukhtar und Marius Gersbeck. Damit liegen die Berliner ziemlich genau in der Mitte zwischen Augsburg (ein Spieler) und Freiburg (neun). Allerdings kommen Herthas Nachwuchskräfte zusammen auf gerade 47 Einsätze, davon 33 in der Startelf. Allein Ben-Hatira, der Herthas Akademie nach der B-Jugend verlassen musste, bringt es auf 15 Einsätze (14 in der Startelf). Zum Vergleich: Beim SC Freiburg haben neun Spieler aus dem eigenen Nachwuchs 113 Spiele bestritten, davon 94 in der Anfangsformation.

40 Spieler aus der Hertha-Jugend haben es zuletzt in den Profifußball geschafft

Die Zahlen widersprechen entschieden dem Selbstbild, das Hertha seit Jahren zeichnet. Als die Berliner vor drei Wochen ihren neuen Anteilseigner KKR vorstellten, verkündete Manager Michael Preetz voller Stolz: „Wir setzen weiter auf unseren großartigen Nachwuchs.“ Und selbst der Investor aus den USA verwies als Begründung für sein finanzielles Engagement auf die „einzigartige Nachwuchsausbildung“ des Vereins.

Solche Urteile sind durchaus berechtigt. Einerseits. Seit der Jahrtausendwende haben es gut 40 Spieler aus Herthas Jugend in den Profifußball geschafft. Das ist eine beeindruckende Zahl. Die U 17 ist seit 2000 viermal Deutscher Meister geworden, die A-Jugend holte einmal den DFB-Pokal und erreichte zweimal das Finale. Bei der Zertifizierung durch die Deutsche Fußball-Liga wurde Herthas Akademie gerade zum dritten Mal hintereinander mit der Höchstwertung von drei Sternen ausgezeichnet – dazu erhielt sie erstmals einen Bonuspunkt für die Kategorie „Effektivität und Durchlässigkeit“. In die Bewertung ist jedoch vor allem die vorige Zweitligasaison eingeflossen, als neun Spieler aus dem eigenen Nachwuchs zum Einsatz kamen.

Hertha-Trainer Luhukay verfolgt das Prinzip "Fordern und fördern"

Doch Masse ist nicht alles. Hertha hat über Jahre eine Menge Mittelmaß ausgebildet. Zuletzt haben Alfredo Morales, Marvin Knoll und Fanol Perdedaj den Klub verlassen: Sie spielen jetzt in den Niederungen der Zweiten Liga. In der Spitze hingegen kommt nichts an. Trotz hohen finanziellen Einsatzes sind aus der Nachwuchsausbildung gerade mal drei deutsche Nationalspieler hervorgegangen: Jerome Boateng (36 Länderspiele), Alexander Madlung und Malik Fathi (je zwei). In fast 15 Jahren seit Gründung der Akademie hat der Klub nur durch den Verkauf von Kevin-Prince Boateng einen nennenswerten Transfererlös (etwa acht Millionen Euro) erzielt. Ganz anders sieht es bei Herthas heutigem Gegner aus. Allein mit Mario Gomez und Sami Khedira hat der VfB Stuttgart 50 Millionen Euro erlöst.

In Stuttgart setzt Trainer Schneider auf den Nachwuchs - zuletzt ohne Erfolg

In Stuttgart ist die Wertschätzung für den Nachwuchs deutlich höher ausgeprägt als bei Hertha. Die Jugend gehört gewissermaßen zum genetischen Code des Vereins. Der neue Cheftrainer Thomas Schneider, der im Sommer mit dem VfB deutscher B-Jugend-Meister geworden ist, hat seinen Job genau dieser Sehnsucht nach der eigenen Jugend zu verdanken. Oder anders ausgedrückt: Sein Vorgänger Bruno Labbadia musste gehen, weil er seinen Enthusiasmus für die Nachwuchsarbeit sehr geschickt verbergen konnte. Schneider ist in dieser Angelegenheit über jeden Zweifel erhaben – erst recht nachdem er im Januar fünf Talente, darunter einen 16-Jährigen, mit ins Trainingslager genommen hat.

In Stuttgart treffen heute die beiden Klubs aufeinander, die im deutschen Jugendfußball zuletzt die größten Erfolge gefeiert haben. Doch anders als beim VfB wird man bei Hertha davon kaum etwas merken. Es ist gut möglich, dass Jos Luhukay erneut komplett auf den Nachwuchs verzichtet. Mukhtar ist krank, Holland bei der U23, Brooks ist laut Herthas Trainer zwar wieder näher an die erste Elf herangerückt, aber ein Einsatz in der Startelf kommt noch nicht infrage. Bleibt Nico Schulz, der zumindest wieder im Kader steht; unter anderem weil Per Skjelbred erkrankt ausfällt. Den U-21-Nationalspieler Schulz hat Luhukay Anfang dieser Woche auf dem Trainingsplatz beiseite genommen. Während die Kollegen ausliefen, lauschte Schulz gut 20 Minuten lang den Worten seines Trainers. Über den Inhalt der Unterredung vereinbarten beide Stillschweigen. Nur so viel wollte Luhukay sagen: „Ich halte sehr viel von Nico.“

Der Holländer verfolgt das Prinzip „Fordern und fördern“. Als Cheftrainer nimmt er in der Nachwuchsausbildung eine – im Wortsinne – Schlüsselrolle ein. Luhukay kann die letzte Tür aufschließen, durchgehen müssen die Talente jedoch selbst. „In eine Profimannschaft zu kommen ist nur der erste Schritt“, sagt er. „Sich dort zu etablieren, das ist viel schwerer.“ Bei Hertha hat es daran in der Vergangenheit oft gehapert. Herthas Trainer hält das jedoch für kein spezifisches Berliner Problem. „Das erleben auch andere, das beunruhigt uns nicht.“

Luhukay zeichnet sich bei der Nachwuchsförderung durch einen gesunden Pragmatismus aus. Niemand spielt, nur weil er jung ist. Der direkte Vergleich mit Stuttgart spricht im Moment jedenfalls eindeutig für Hertha. Der VfB hat in dieser Saison acht Spieler aus dem Nachwuchs eingesetzt, 72 Mal standen sie in der Startelf. Doch Jugend schützt vor Niederlagen nicht. Zuletzt hat der VfB sechs Mal hintereinander verloren, der Rückstand auf Hertha BSC beträgt bereits zwölf Punkte.

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