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Mann mit Weitblick? Hertha-Trainer Otto Rehhagel

© dpa

Vor dem Relegationsspiel: Drama, Hertha!

Im Relegationsspiel gegen Fortuna Düsseldorf kämpft Hertha BSC heute um den Klassenerhalt. Ein Duell, viele Schicksale: Sieben Geschichten zu einem Spiel, das Geschichte schreiben kann.

Endspiele

Die letzten Alles-oder-Nichts-Spiele der Hertha hatten meistens mit dem Europapokal zu tun – und gingen zumeist daneben. 2008/09 verabschiedeten sich die Berliner durch ein 0:4 bei Olympiakos Piräus aus der Europa League, mit dem gleichen Ergebnis wurde in Karlsruhe der Einzug in die Champions League verspielt. Fast noch trostloser war das Verpassen der Königsklasse 2004/05, das 0:0 gegen Hannover am 34. Spieltag war zu wenig. Mehr Nervenstärke bewies Hertha um die Jahrtausendwende, 2002/03 wurde durch ein 2:0 gegen Kaiserslautern Bremen am letzten Spieltag vom fünften Platz verdrängt, die Qualifikation für den Uefa-Cup gelang damit doch noch. Drei Jahre zuvor verlor Berlin zwar im letzten Saisonspiel mit 0:3 gegen Dortmund, weil aber Konkurrent Stuttgart gleichzeitig patzte, langte es doch noch für Europa. Als tiefes Trauma in die Vereinsgeschichte ging die Qualifikationsrunde zur Zweiten Liga 1986/87 ein. Hertha musste gegen Remscheid siegen, führte zu Hause kurz vor Schluss mit 1:0, um dann doch noch 1:3 zu verlieren. Ein zweites Jahr Oberliga war die Folge. nia

Fotostrecke: Ein Rückblick auf Herthas Saison

Chancentod

Adrian Ramos – Fußball-Gott! Nein, wirklich nicht. Nicht in dieser Saison, wissen auch die treuesten Hertha-Fans. Adrian Ramos – Chancentod. Ja. Ja doch! Das war er schon – bis jetzt. Und heute? Irgendwann hat Herthas Stürmer in Mainz mal wieder zwei Tore geschossen, das war Mitte März, Hertha gewann 3:1, alle glaubten an die Wende. Endlich, der Knoten geplatzt beim Kolumbianer.

Und dann kam Wolfsburg nach Berlin, 1:4, Ramos hatte gefühlte hundert Chancen vergeben: kläglich, unfassbar, Mitleid erregend schlecht. „Raus, raus“, brüllten manche Fans. Diese ganze verkorkste Hertha-Saison wird erlebbar, wenn man an Ramos vergebene Möglichkeiten denkt. Er rennt alleine aufs Tor, hat Zeit, hat Platz, schießt aber aus unerklärlichen Gründen schon aus weiter Distanz, scheitert. Er steht vier Meter vor dem Tor, völlig frei, köpft den Ball daneben. Aber Fußball ist immer auch Momentum, alles kann sich drehen und wenden in Sekundenschnelle, zum Beispiel wenn der Stürmer trifft. Vielleicht heute, Ramos, gegen Düsseldorf. Die Fortuna liegt ihm, letztes Spiel in Liga zwei, zwei Tore Ramos. ale

Relegation

Wörtlich genommen ist Hertha schon abgestiegen. Lateinisch „relegatio“ heißt „Verweisung“. Relegationsplatz ist demnach ein Abstiegsplatz. In England heißt Relegation auch Abstieg, bei uns bedeutet Relegation Qualifikation. Gespielt wurde sie von 1982 bis 1991 und wiedereingeführt 2009. Oft war es ein zähes Ringen – mit gutem Ausgang für die Bundesligisten, die sich in 13 Fällen neun Mal durchsetzen konnten – früher dreimal in inzwischen abgeschafften Entscheidungsspielen. Besonders kurios war das 1986. Zwischen dem letzten Spiel der Bundesliga-Saison und dem Ende der Relegation lagen fünf Wochen. Dortmunds damaliger Trainer Reinhard Saftig sagte, dass ob der unsicheren Situation keine Planung möglich gewesen sei. Ihm seien Spieler, die für die Bundesliga zugesagt hatten, abgesprungen. Bundesligist Dortmund hatte das dritte Spiel erst durch ein Tor in letzter Minute gegen Zweitligist Fortuna Köln erreicht. Das Entscheidungsspiel musste jedoch um eine Woche verschoben werden, weil die Kölner beim DFB 13 Atteste von erkrankten Spielern vorlegten. Wenig erholt verloren die Fortunen das dritte Spiel 0:8. Dabei hätten die Borussen statistisch gesehen nicht nervös werden müssen. Denn: das erste Tor entscheidet – wenn es nicht der 1. FC St. Pauli schießt. Elf Mal setzte sich die Mannschaft durch, die zuerst jubelte. Der FC St. Pauli ist die Ausnahme und unglücklichster Relegationsteilnehmer mit zwei Teilnahmen und zwei Niederlagen. Rekordteilnehmer ist der 1. FC Saarbrücken, die Saarländer spielten in der ersten Relegationsphase der Bundesliga gleich drei Mal mit und scheiterten zwei Mal – als Zweitligist. Als erster Zweitligist schaffte Bayer Uerdingen 1983 den Aufstieg. Dass sich bisher nur vier Mal der Zweitligist durchsetzte, sollte Hertha Mut machen. Gut, dass die Berliner nicht als Zweitligist gegen ein Drittliga-Team antreten müssen. Da fielen bisher seit 2009 alle Relegationsbegegnungen zu Gunsten der Drittligisten aus. cv

Die Mentalisten

Hertha hat keine Typen? Auf dem Platz stehen nur elf Sensibelchen, die schon verzweifeln, wenn sie das Wort Druck nur hören und ein volles Olympiastadion als Drohkulisse verstehen? Der Vorwurf trägt nicht mehr so richtig. In den vergangenen Wochen haben sich, trotz einiger Rückschläge, einige Charaktere herausgebildet, die das Potenzial haben, eine Relegation mental erfolgreich zu bestreiten. Torwart Thomas Kraft agiert schon die ganze Saison über konstant gut und fast fehlerfrei. Als Typ zeichnet ihn ein in sich ruhender Ehrgeiz oliverkahnscher Prägung aus, der immer wieder lautstark motivierend hervorbricht. Damit stand er aber lange alleine auf verlorenem Torposten.

Seit er im defensiven Mittelfeld spielen darf, zeigt auch Lewan Kobiaschwili, wie wichtig er auch mit fast 35 Jahren noch ist. Der Ausländer mit den meisten Bundesligaeinsätzen ist ein stiller Träger der Kapitänsbinde, aber seine Erfahrung und Ruhe am Ball helfen der Mannschaft. Allerdings flog er in neuer Rolle schon zweimal vom Platz. Auch Peter Niemeyer wurde schon vom Feld geschickt – wer nicht bei Hertha? – aber den 28-Jährigen zeichnet aus, was Kobiaschwili fehlt. Er kämpft und schreit, feuert Fans und Mitspieler an, selbst wenn er nicht mitspielt. Damit ist er zum emotionalen Leader des Teams geworden.

Dazu kam im letzten Bundesliga-Spiel Änis Ben-Hatira. Der Deutsch-Tunesier kann wirre Auftritte auf der Außenbahn hinlegen, aber: Es beeindruckt ihn nicht, er versucht es immer wieder. Das kann schlecht sein, wenn er etwa mit dem Kopf nach unten und armerudernd in einen Pulk Gegenspieler hineinläuft. Aber auch gut, wenn er, seinem Instinkt folgend, viel und dann mal richtig läuft, um per Abstauber zu treffen oder den Ball zu erobern. Er macht sich nicht viele Gedanken. Auch das kann eine mentale Qualität sein.dob

Die Fans

Genial. Das muss man sagen. Die Ostkurve lebt und ist laut und kommt und bleibt treu. Erstligareif, allemal. Das war nicht immer so! Aber die Fans sind längst auch sehr gut organisiert, und sie sind sehr deutlich in ihren Botschaften. „Maul halten und kämpfen“ war ein Plakat beim Spiel gegen Hoffenheim, das die Stimmung ziemlich genau traf. Nach dem Spiel, als die allermeisten völlig euphorisch waren und die Mannschaft vor die Kurve trat, war es ganz kurz still, dann Sprechchöre: „Kämpfen und siegen!“ Sollte heißen, schön und gut, aber wir sind noch nicht durch! Das war klug und pointiert. Vor dem Hoffenheim-Spiel war die Ostkurve resigniert, hatte sich aber ein Ziel gesetzt: „An uns soll es nicht liegen“, wie es Steffen Toll, Vorsitzender des Förderkreises Ostkurve sagt. Deshalb haben sich die Fans nicht lumpen lassen und sind gekommen und haben gegen Hoffenheim teilweise einen Lautstärkepegel hinbekommen, der zumindest heranreicht an Dortmunder oder Schalker Verhältnisse. „Wir haben uns nichts vorzuwerfen“, sagt Toll. Gegen Düsseldorf werden sie das wieder beweisen. ale

Der Düsseldorfer

1967 in Düsseldorf geboren, die ersten 23 Lebensjahre dort verbracht, darunter die ersten vier Profifußballerjahre – bei der Fortuna. „Das spielt für die Partie keine Rolle“, sagt Michael Preetz. Der Hertha-Manager ist seit 16 Jahren Berliner, einer von vielen Zugereisten aus dem Rheinland. Er will gern bleiben. Um die Chancen darauf zu erhöhen, müsste die Hertha erst- und die Fortuna –„ein ganz besonderer Klub für mich“ – zweitklassig bleiben. „Kurios für mich persönlich“, sagt Preetz, „aber das passt zu dieser Saison.“ dob

Das 3:1 gegen Hoffenheim in Bildern:

König Otto

Für Otto Rehhagel geht es, gefühlt, um den Nimbus des Immergewinners. Nicht, dass Rehhagel als Trainer noch nie gescheitert wäre: Die Älteren erinnern sich an die „Notnagel“- und „Torhagel“-Zeiten – Rehhagels von mäßigen Erfolgen und großen Niederlagen (0:12 mit Borussia Dortmund gegen Gladbach anno 1978) geprägte Wanderschaft in den 70ern und frühen 80ern. Doch überwiegt in der Rehhagel-Wahrnehmung das Präsens des großen, alten Mannes: 14 erfolgreiche Jahre in Bremen, Meister mit dem Aufsteiger Kaiserslautern, Europameister mit den Nobodies aus Griechenland. Dass Rehhagel zwischenzeitlich in der Saison 95/96 als Trainer des FC Bayern München scheiterte, wo er nach dem 30. Spieltag entlassen wurde, fällt kaum ins Gewicht. Und könnte es doch umso mehr, wenn Hertha doch absteigt: Dann ist Rehhagel in beiden Olympiastadien des Landes gescheitert, hat es in zwei Millionenstädten, bei zwei großen, schwierigen Klubs nicht gepackt. Die Begleitumstände seines Berliner Engagements könnten weitere große Schatten auf die Würde des Königs werfen: In Berlin wirkte der 73-Jährige zeitweise desorientiert, erst unter Rehhagel rutschte Hertha auf den Abstiegsplatz. Indes: Nach einer siegreichen Relegation hätte König Otto wieder einmal im entscheidenden Moment triumphiert – nicht zuletzt über sich selbst. jos

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