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© Engler

Hertha und die Stadt: Hier schweigt Berlin

Hertha BSC war nie ein Verein für die ganze Stadt. Das spürt der Bundesligist besonders in der Krise. Das letzte Trikot im City-Fanshop ging vor einer Woche weg.

Berlin - Zigaretten gehen immer, sagt die Frau vom Hertha-City-Shop. Der Hertha-City-Shop ist ein Tabakladen mit einem Regal voller Fan-Devotionalien in Gesundbrunnen, also eher am Rand der City. Hertha BSC war mal eine große Nummer, aber in Zeiten wie diesen leiden die Popularität und auch das Geschäft. „Letztes Jahr um die Zeit – oh, ich sage Ihnen, da war hier was los“, erzählt die Frau, und wann sie das letzte Fantrikot verkauft hat. „Vor einer Woche.“

In Gesundbrunnen ist es wie überall in Berlin. Die Stadt, die sich noch vor einem halben Jahr scheinbar verliebt hatte in ihren Fußballklub, sie wendet sich ab. Nicht furchteinflößend wie in Stuttgart, wo vor einer Woche der vermummte Mob aus der Kurve den „Scheiß-Millionären“ an die Gurgel wollte. Berlin straft mit Desinteresse.

Der Berliner leidet nicht, der Berliner arrangiert sich. Seine Ideologie ist der Pragmatismus. Bedingungslose Loyalität ist ihm fremd, auch und gerade im Fußball. Selbst zu besseren Zeiten war Hertha für Berlin nie, was Schalke 04 für Gelsenkirchen, die Borussia für Dortmund oder Werder für Bremen ist, nämlich eine Mannschaft für die ganze Stadt. So eine Mannschaft hat Berlin nie besessen, nicht mal im vergangenen Frühjahr, als Hertha für ein paar Wochen von der Meisterschaft träumte.

Am Freitag kommt Bayer Leverkusen ins Olympiastadion, vielleicht zum letzten Mal, bevor die Gegner Paderborn, Fürth oder Oberhausen heißen. Noch stimmen die Zuschauerzahlen. Obwohl Hertha nach 12 Niederlagen in 15 Spielen weit abgeschlagen als Tabellenletzter durch die Bundesliga irrlichtert. Vor zwei Wochen kamen fast 50 000, um sich das Spiel gegen Eintracht Frankfurt anzuschauen. Doch Hertha BSC misstraut dem Frieden. Für das Spiel gegen Spitzenreiter Leverkusen wirbt der Klub vorsichtshalber mit riesigen Plakaten am Alexanderplatz, und der Vorverkauf für den Saisonausklang im Mai gegen Bayern München hat schon vor einer Woche begonnen. Vielleicht reicht es ja noch für ein paar Tickets unterm Weihnachtsbaum, bevor die Berliner Zuschauer genug haben von den ewigen Niederlagen und sich vielleicht nicht mal mehr für die Bayern interessieren.

Als bei der Mitgliederversammlung in der vergangenen Woche ein Redner wütend forderte, Hertha gehöre „als Hauptstadtklub auf Platz eins der Tabelle“, da lachte der Saal. Eine vom Boulevard angeheizte Revolution gegen die Vereinsführung versandete im Nichts. Die Basis war realistisch genug für die Einschätzung, dass sich 33 Millionen Euro Schulden nicht einfach abwählen lassen.

Es ist nicht viel geblieben von dem schönen Gefühl, richtig angesagt zu sein. Kein Klaus Wowereit mehr auf der Ehrentribüne, kein Peter Fox, der sich als Hertha-Fan outet. Die Hip-Hopper von den „Atzen“ mit ihrer Stadionhymne „Hey, das geht ab“? Erfolgsfans, wie so viele. Schon einen Tag, nachdem Hertha am letzten Spieltag der vergangenen Saison 0:4 in Karlsruhe verloren und damit die Champions League verpasst hatte, wurde das „Atzen“–Lied bei der Meisterparty des VfL Wolfsburg gesungen. Geblieben als prominenter Unterstützer ist Thomas Brussig, aber auch der hat vor ein paar Tagen angemerkt, dass Hertha jetzt in einer dem Stil der Mannschaft angemessenen Tabellenregion spiele.

Mit den Eventfans macht sich auch das Fußvolk rar. Beim letzten öffentlichen Training vor dem letzten Heimspiel dieses Jahres ist außer den Fußballspielern und ein paar Reportern nur noch das Ordnungspersonal zugegen. Friedhelm Funkel stapft durch den Regen, es friert ihn, und er bleibt nur kurz stehen, um die üblichen Phrasen in die Mikrofone zu sprechen. Nein, er hat keine Angst vor Leverkusen, ja, es ist noch alles drin, am Freitagabend werden alle schlauer sein.

Friedhelm Funkel kommt vom Niederrhein, er ist ein freundlicher Mann mit einer Trainervergangenheit in Uerdingen, Duisburg, Rostock, Köln und Frankfurt am Main, wer es gut mit ihm meint, nennt ihn „bodenständig“. Vor ein paar Wochen hat er Lucien Favre abgelöst, den Schweizer, der mit seinem französischen Akzent und seiner Vision vom modernen Kurzpassspiel dem Fußballunternehmen Hertha BSC ein wenig Glanz verliehen hatte. Einen Sommer lang war Favre der Liebling des deutschen Fußball-Feuilletons, doch am Ende haben sich seine Visionen in Luft aufgelöst. Hertha ist wieder ein gewöhnlicher Bundesligaklub, nur mit mehr Schulden und weniger Punkten als andere.

Das Maximale an gelebtem Fußballgefühl in diesen tristen Herbsttagen ist Melancholie. Man spürt es in den S- und U-Bahnen auf dem Weg zum Spiel, in den Wandelgängen des Olympiastadions, ja sogar in der Ostkurve, wo die Harlekins sitzen, die treuesten und verrücktesten der Fans. Keine wütenden Sprüche gegen die Spieler, die verwegenste Anklage ist der Kurvenklassiker „Wir woll’n euch kämpfen seh’n!“ Herthas Fans leiden schweigend.

Zum Beispiel Axel Kruse. Kruse war früher Mittelstürmer, jetzt ist er 42 und hat eine Kolumne in der „Bild“-Zeitung. 1989 ist er als Junioren-Nationalspieler aus der DDR geflohen und gleich weiter nach Berlin, „weil ich schon im Osten Herthafan war und unbedingt für diesen Klub spielen wollte“. Zweimal ist er mit Hertha in die Bundesliga aufgestiegen, zwischendurch hat er in Frankfurt, Stuttgart und in der Schweiz gespielt, aber Herthafan ist er bis heute geblieben. „So etwas kann man sich ja nicht aussuchen“, sagt Kruse, „entweder du bist Fan oder nicht, ich geh jetzt doch nicht zu Union, nur weil da angeblich bessere Stimmung ist.“

Am letzten Sonntag hat Axel Kruse mit seinem Sohn Fußball geguckt. Zu Hause vor dem Fernseher, Schalke gegen Hertha, mal wieder eine Niederlage. Sie haben gebrüllt und geheult, so laut, dass die Frau rausgegangen ist und der Hund gejault hat, „der leidet immer am meisten“. Der Fußballspieler Kruse hat auch so gelitten, wenn auf dem Platz nichts lief. 1991 stand er mit Hertha ganz unten, den Abstieg hat er nur deshalb nicht miterlebt, weil ihn der Verein verkaufen musste, um das finanzielle Überleben zu sichern. Denkt er manchmal daran? Kruse winkt ab. „Das kannst du nicht vergleichen, wir waren Aufsteiger und hatten eine schlechte Mannschaft, von der niemand etwas erwartet hat. Dieses Jahr hat Hertha eine gute Mannschaft, das macht es ja so schlimm.“

Hinter der Hand sagen auch manche Fans, dass so ein Abstieg auch eine Chance sein könnte. Ein Neuanfang ohne langfristige Millionenverträge, die nur für die oberste Liga gültig sind. Mit jungem, unbelastetem Personal, mit möglichst vielen Spielern aus Berlin und dem Umland. Sozusagen ein Weg zurück zu den Ursprüngen, wenn auch nicht bis an den Gesundbrunnen, wo Hertha schon lange nicht mehr zu Hause ist.

Manchmal kommen Touristen in den Hertha-City-Shop und fragen, wo denn das berühmte Stadion an der Plumpe stand. Die Verkäuferin schickt sie dann 200 Meter die Behmstraße herunter, vorbei an einem silbernen Raumschiff namens „Gesundbrunnen Center“, rechts in die Bellermannstraße rein bis zur Swinemünder Brücke, die hier jeder Millionenbrücke nennt. Wo jetzt Achtgeschosser im Siebzigerjahre-Chic stehen, war mal Herthas Heimat. Die Plumpe ist vor 35 Jahren abgerissen worden. Mit dem Erlös wendete Hertha damals den Konkurs ab.

„Sie glauben gar nicht, wie viele von unseren Kunden das noch wissen“, sagt die Frau vom Hertha-City-Shop. Viele plaudern gern über früher, über Herthas große Zeiten mit dem Berliner Fußball-Idol Hanne Sobeck, er hat ein paar Meter weiter gewohnt. Die triste Gegenwart wird oft ausgeblendet. Ob das noch was wird mit der Verhinderung des Abstiegs? Hm, sagt die Frau, „die Hoffnung stirbt zuletzt“, was man halt so sagt in Fußballkreisen. Das Trikot mit den Original-Autogrammen der Bundesliga-Mannschaft hängt schon ein paar Monate auf dem Bügel. „Kostet ja auch 70 Euro, und vergessen Sie mal nicht, dass wir eine Wirtschaftskrise haben.“

Gut, dass Zigaretten immer gehen.

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