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© dpa

Historie: Fußball zwischen Glassplittern

Früher, zu einer Zeit, als der Fußball auch im Ausnahmezustand rollen musste: Erinnerungen an Schalke und den 11. September

Wann muss sich der Sport endgültig zur Nebensache reduzieren? Wann muss er sich zurückziehen aus dem öffentlichen Raum, weil dort kein Platz ist für Vergnügen, Ablenkung, Unbeschwertheit? Der Tod von Robert Enke war so eine Situation, in der die Darsteller der Unterhaltungsbranche zu dem Schluss kamen: Es geht nicht mehr. Wir können nicht mehr. Der Deutsche Fußball-Bund und seine Nationalmannschaft waren sich einig in ihrem Willen, das für den vergangenen Samstag geplante Länderspiel gegen Chile abzusagen. Erst acht Tage nach dem Suizid des Nationaltorhüters sah sich die Nationalmannschaft wieder in der Lage, so etwas wie Alltag einkehren zu lassen. Das Spiel am Mittwoch gegen die Elfenbeinküste fand statt und stand doch ganz im Zeichen des Abschieds von Enke.

Eine vergleichbare Situation – was den Schock, die emotionale Erschütterung betrifft – gab es für eine deutsche Fußballmannschaft zuletzt vor acht Jahren. An jenem 11. September 2001, als ein Terrorangriff auf New York die Türme des World Trade Centers zerstört hatte. Schalke 04 wollte damals wie am Samstag die deutsche Nationalmannschft nicht spielen. Am Ende aber mussten die Gelsenkirchener auf Anweisung des europäischen Fußballverbandes Uefa zum Champions-League-Spiel gegen Panathinaikos Athen antreten. So richtig verstanden hat das bis heute niemand.

Dabei war an diesem Dienstag an Fußball nicht zu denken. Vor der Abfahrt zur Arena auf Schalke hatten die Spieler im Hotel nur vor dem Fernseher gesessen. Trainer Huub Stevens war einer der Letzten, die dazukamen. „Macht die Fernseher aus!“, rief der Trainer, „Macht sofort die Dinger aus.“ Doch es war schon zu spät. Die Dinger bleiben an. Huub Stevens hatte die Macht über seine Mannschaft verloren.

Niemand sprach mehr vom Spiel gegen Panathinaikos, für Schalke war es das erste in der Champions League überhaupt. Alles wartete auf eine Absage. Aber die kam nicht.

Warum musste an diesem Abend Fußball gespielt werden? Stundenlang diskutieren die Funktionäre der Uefa, wie man mit den acht angesetzten Begegnungen der Champions League umgehen sollte. Nach der letzten Krisensitzung unter Leitung von Generalsekretär Gerhard Aigner gab die Uefa eine Erklärung ab: „Die Spiele am Abend sollen wie geplant ausgetragen werden, aber wir werden fortfahren, die Entwicklung zu beobachten.“ Zur Begründung berief sich die Uefa auf den seltsam anmutenden Begriff der Neutralität des Sports.

Die Schalker Spieler wehrten sich. Sie gingen zu ihrem Manager Rudi Assauer, der das Spiel absagen wollte, aber er durfte nicht. Veranstalter war die Uefa. Schalkes Trainer Stevens erinnert sich: „Die haben gesagt: Ihr müsst spielen! Also haben wir gespielt.“ So einfach war das. Und so schwer.

Im Mannschaftsquartier lief weiter der Fernseher. Bundeskanzler Schröder sprach, bewegt und verstört. „Da habe ich noch gedacht, dass wir nicht spielen müssen“, sagte Schalkes Mittelfeldspieler Andreas Möller. Doch die Uefa blieb hart. Zwei Stunden vor dem Spiel rief Huub Stevens seine Mannschaft vom Fernseher weg zur Abfahrt.

Das Stadion war seit Wochen ausverkauft, 55 000 Zuschauer hatten sich auf eine Party gefreut. Die für ihr Talent zur Improvisation berühmten Schalker Fans und die Organisatoren aus der Vereinsführung, sie reagierten intuitiv alle gleich. Die Party fiel aus. Vor- und Rahmenprogramm wurden gestrichen, die Choreografie aus blau-weißen Fahnen und im Takt geschlagenen Trommeln war umsonst einstudiert worden. „Wir hatten keine Lust mehr zu feiern“, sagte der Schalker Fanklub-Chef Rolf Rojek. Der Stadionsprecher verlas einen kurzen Text, in dem den Familien der Opfer das Mitgefühl der beiden Vereine ausgesprochen wurde. Danach kündigte er die Aufstellungen der Mannschaften an – in ruhigem Ton, ohne Jubel. Die Zuschauer applaudierten zögerlich, fast beiläufig. Dann legten sie eine Schweigeminute ein.

Die Spieler beider Mannschaften liefen ein, versammelten sich im Mittelkreis und verschränkten die Hände hinter dem Rücken. Unbeholfene Trauer. Auf den Tribünen war nicht Fußball das Thema, sondern der Tod. Die sonst so lautstarke Unterstützung war weg, ganz leise nur hallte der traditionelle Schlachtruf „Attacke!“ durch die Arena, und als die Griechen das erste Tor schossen, gab es kaum Aufmunterterung für die Schalker. Zum ersten und bislang einzigen Mal in der Vereinsgeschichte war den Fans die eigene Mannschaft egal.

Vergeblich versuchten die Spieler unten auf dem Rasen, ihrem Beruf nachzugehen. Spielmacher Andreas Möller etwa stand völlig neben sich, kein einziger Pass von ihm fand einen Mitspieler. Möller ist seiner Karriere oft für seinen sensiblen Charakter ausgelacht worden. Am 11. September lachte keiner. Völlig verstört trat Möller nach dem Abpfiff vor die Mikrofone der Reporter. „Wir bewegen uns zwischen Glassplittern. Es kann alles passieren, auch das Unvorstellbare.“

Auch die anderen Schalker taten sich schwer. Nicht einen einzigen Torschuss gaben sie ab. Panathinaikos gewann ohne Mühe 2:0. Nach dem Spiel tanzten die Athener Spieler auf dem Rasen, sie bejubelten ausgiebig ihren Sieg. Trainer Huub Stevens schaute mit starrem Blick zu ihnen hinüber und dachte nur: „Die sind einfach besser mit der ganzen Sache umgegangen.“

Nach dem Spiel fuhr Stevens zurück ins Hotel. Allein. Die Familie war weit weg in Holland. Zuvor hatte das Stevens nie gestört. Er war gern allein mit seinem Videorekorder und den unzähligen Fußballbändern. An diesem Abend aber war alles anders. „Ich brauchte jemanden zum Reden. Ganz allein zu Hause sitzen und auf den Fernseher gucken, das ging doch nicht, nicht in dieser Nacht.“ Also rief er zu Hause in Eindhoven an und sprach eine halbe Stunde lang mit seiner Frau. Danach schaltete Stevens noch einmal den Fernseher an und schaute sich die Bilder aus Amerika an. Die Flugzeuge, die Trümmer, die Toten.

Am nächsten Morgen gestand die Uefa ihren Fehler ein. Die für den Mittwoch geplanten Spiele der Champions League wurden alle abgesagt. Zu spät für Huub Stevens und den FC Schalke 04.

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