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IOC-Präsident Jacques Rogge.

© AFP

Interview: "Ich bin verliebt ins olympische Dorf"

IOC-Präsident Jacques Rogge über den Sinn der neuen Jugendspiele und wie sie die großen Olympischen Spiele verändern können

Herr Rogge, „höher, schneller, weiter“ – gilt das auch für die Olympischen Jugendspiele, die im August in Singapur zum ersten Mal stattfinden?

Es ist sehr wichtig.

Warum denn?

Veranstaltungen, die auf Respekt, Freundschaft und Solidarität abzielen, gibt es schon. Pfadfinderlager zum Beispiel. Ich glaube aber an die erzieherischen Werte des Sports. Und ein Wert ist: Auf welchem Niveau auch immer du Sport treibst, du musst nach deiner persönlichen Grenze streben. Hart trainieren, diszipliniert leben. Selbst der Letzte ist, wenn er das Maximum aus sich herausgeholt hat, ein Champion.

Wie werden Sie die Teilnehmer der Jugendspiele davon abhalten können, einfach nur nach der Goldmedaille zu streben?

Das wird die Herausforderung für uns sein. Wir tun einiges. Die Teilnehmer werden während der ganzen Spiele bleiben und nicht direkt nach ihrem Wettkampf abreisen. Es ist das erste Mal, dass wir eine Erziehungsveranstaltung austragen. Wir werden dabei Erfolge haben, wir werden Fehler machen. Die ersten richtig guten Olympischen Spiele haben auch erst 1912 stattgefunden. Es hat also 16 Jahre gedauert. Wer weiß, wie lange es bei den Jugendspielen dauert. Vielleicht, zwei oder drei Veranstaltungen. Bis wir die richtige Erziehungsphilosophie haben.

Wenn es jetzt auch Jugend-Olympiasieger gibt, werden Jugendliche noch früher mit dem Training anfangen und in die Versuchung kommen zu dopen.

Das mag theoretisch möglich sein.

Und praktisch?

Es ist ein falscher Ansatz. Das Training der Jugendlichen wird sich doch nicht ändern. Es wird nicht mehr werden. Wenn es keine Jugendspiele geben würde, dann würden sie für die Jugend-Weltmeisterschaften trainieren. Wir setzen auf Prävention und frühe Aufklärung. Deswegen wird ein Teil unseres „Culture and Education Programmes“ darauf abzielen, die jungen Athleten für die Gefahren des Doping zu sensibilisieren und Ihnen zu zeigen, wie man statt dessen mit einem gesunden Lebensstil Topleistungen erbringen kann.

Im Hochleistungssport geht es darum, seine Anstrengungen zu fokussieren, alles andere auszublenden. Im erzieherischen Teil der Jugendspiele geht es darum, seinen Horizont zu weiten. Wie wollen Sie diese grundsätzlich verschiedenen Perspektiven zusammenbringen?

Schauen Sie sich das Programm der Spiele an. In den ersten Tagen werden sich die Jugendlichen akklimatisieren und Singapur erkunden. Dann kommt ihr Wettkampf. Nach der Wettkampfphase haben alle noch zwei, drei oder vier Tage. Dann findet der pädagogische Teil statt. Aber während der ganzen Zeit wollen wir Spaß haben mit Musik, Orchestern, anderen Dingen.

Und Sie glauben, dass der Jugendliche, der gerade das Finale verloren hat, sich auf diesen neuen Teil einlässt?

Ja, davon bin ich fest überzeugt. Wissen Sie, es gibt etwas sehr Starkes, das ist der Spaß und die Atmosphäre im olympischen Dorf. Ich bin immer noch verliebt in die Atmosphäre des olympischen Dorfs. Es ist einfach fantastisch. Die Jugendlichen werden es spüren. Als Arzt sage ich, sie werden sich infizieren. Sie werden Freunde fürs Leben finden, gerade mit Social Media. Sie werden nicht mit 50 E-Mailadressen zurückkommen, sondern mit 100 oder 200.

Wie viel Jacques Rogge steckt in den Olympischen Jugendspielen?

Ich möchte diese Idee nicht für mich persönlich beanspruchen. Schon bevor ich 1989 zum Präsidenten der Europäischen Nationalen Olympischen Komitees gewählt wurde, gab es eine Debatte darüber, Spiele für Jugendliche in Europa zu veranstalten. Ich habe dann vorgeschlagen, sie in meiner Stadt auszutragen, in Brüssel. Wenn ich einen Verdienst daran haben sollte, dann den, dass ich sie eingeführt habe.

Und wieso eigene Jugendspiele?

Es gab damals keinen Begegnungen zwischen Jugendmannschaften aus West- und Osteuropa. Die kommunistischen Staaten schickten Mannschaften mit erwachsenen Sportlern, aber nie die mit jugendlichen. Durch eine Ironie der Geschichte fiel einen Monat später die Mauer in Berlin.

Dann ist der Zweck entfallen.

Aber es gab immer noch unterschiedliche Mentalitäten. Wir dachten, es wäre gut, Ost und West zusammenzubringen. Den ersten Wettbewerb haben wir in Brüssel ausgetragen, 1991. Es kamen dann immer mehr Anfragen aus anderen Teilen der Welt, so etwas global zu organisieren.

Es sieht nach dem wichtigsten Projekt Ihrer Amtszeit als IOC-Präsident aus.

Vielleicht, ja. Das müssen andere bewerten. Aber wenn Sie mich fragen, was mir persönlicher wichtiger ist, würde ich den Kampf gegen Doping nennen, den wir verstärkt haben.

Sind die Jugendspiele eine Chance, neu anzufangen und unschuldige Spiele zu veranstalten?

Auf jeden Fall. Wegen des erzieherischen Elements. Bei den traditionellen Spielen haben sie Druck von den Athleten, von den Medien, von den Veranstaltern. Das alles macht ein pädagogisches Programm schwer. Bei den Jugendspielen sind die Teilnehmer außerdem zwischen 14 und 18 Jahren alt. Sie sind noch aufnahmefähig. Mit 25 ist ihre Persönlichkeit ausgebildet und geformt.

Welches Bild vom Sport sollen die Jugendspiele denn der Welt zeigen?

Dass die Welt des Sports eine Verantwortung hat, jungen Athleten zu helfen, auf ihr künftiges Leben vorbereitet zu werden. Mit geistigen Werten, etwa Respekt vor dem anderen, friedliche Verständigung, Anerkennung von Regeln, Streben nach Exzellenz. Wir wollen ihnen soziale Werte vermitteln, die sie auch in anderen Lebenslagen brauchen werden.

Was meinen Sie damit?

Sie sind zum Teil sehr persönlich, eine gesunde Lebensführung und gute Ernährung, Prävention von HIV, aber auch, dass sie bereit sind, weiter zu lernen, sich einzufinden ins soziale und berufliche Leben. Die sportliche Karriere ist sehr kurz, sie geht bis 30, 35. Auf das, was danach kommt, müssen junge Athleten vorbereitet sein. Als Weltbürger haben sie natürlich noch andere Pflichten: die Umwelt zu schützen. Gleichberechtigung der Geschlechter. Solidarität zu üben zwischen denen, die mehr haben und denen, die weniger haben. Rassismus vorzubeugen. Es geht darum, der jungen Generation ein Handwerkszeug mitzugeben. Wir erziehen sie nicht, wir sagen ihnen nur: Sei dir über dies bewusst, sei dir über jenes bewusst, aber handeln musst du selber.

Ist die Einführung der Jugendspiele daher nicht das Eingeständnis, dass Sport nicht alles lösen kann. Der Fußball hält sich für den Weltverbesserer schlechthin und Fifa-Präsident Joseph Blatter wartet immer noch auf den Friedensnobelpreis.

Wir müssen realistisch und vernünftig sein. Ich glaube, dass Sport ein wichtiges Instrument ist. Sport ist wahrscheinlich der beste Weg, um Minderheiten in die Gesellschaft einzubinden. Das sehen Sie doch an Ihrer Fußball-Nationalmannschaft. Ich könnte kein besseres Beispiel finden. Sport kann bessere Individuen schaffen. Das heißt nicht, dass Sport alle Leiden dieser Welt löst. Sport ist nicht besser als die Welt, Sport ist die Welt. Sport kann keinen Frieden erzwingen, Sport kann keinen Frieden erhalten. Aber er kann ein Klima dafür schaffen.

Was kann der Sport bei den Jugendspielen erreichen?

Wir werden eine Zahl von Mixed-Wettbewerben haben. Das ist ein Weg, um jungen Athleten zu vermitteln, die Bedeutung von Frauen anzuerkennen, dass man sich gegenseitig helfen kann und eine Einheit herzustellen, die sehr wichtig ist. Wir werden Teams haben, die sich aus verschiedenen Ländern zusammensetzen. Dann spielt man nicht mehr nur für sein Land, sondern für sein Team und für seinen Doppelpartner. Das erweitert den Horizont und auf solche Dinge wollen wir hinaus.

Sich gegenseitig zu respektieren, bedeutet, sich erst zu kennen, hat schon Pierre de Coubertin gesagt, der Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit. Sind jetzt die Jugendspiele auch die Erfüllung von Coubertins Vermächtnis von den Spielen für die Jugend der Welt?

Ich möchte es nicht überbewerten. Aber ja, es gibt etwas, das nun möglich ist, was in seiner Zeit nicht möglich war. Weil die Gesellschaft damals anders war. Für Coubertin waren Frauen bei den Olympischen Spielen zunächst nicht vorgesehen. Für uns ist ein Gleichgewicht bei den Geschlechtern essenziell. Man sollte ihn deshalb nicht verdammen, sondern sich der Besonderheiten der jeweiligen Epoche bewusst sein.

Coubertin war für seine Zeit sehr fortschrittlich.

Ja, er war ein Visionär. Aber er war gefangen vom konservativen Geist seiner Zeit und von der Tradition. Und die Welt damals war nicht global. Damals musste man auch mit dem Schiff zu den Spielen fahren, manchmal Wochen. Damals war Sport etwas für Reiche, heute ist es etwas für jeden. Es war damals nicht möglich Coubertins Traum zu erfüllen. Heute ist es das.

Der Welt-Fußball-Verband Fifa hat lange mit dem iranischen Fußballverband gestritten, ob ihre Fußballerinnen Kopftücher tragen dürfen. Wie kann der Sport mit dieser kulturellen Herausforderung umgehen?

Die iranischen Spielerinnen dürfen mit einer Art Kopftuch spielen. Insgesamt ist die Situation klar, die Bekleidung liegt allein in der Zuständigkeit der internationalen Fachverbände. Die Regeln der Fachverbände richten sich vor allem nach Sicherheit. Die Fifa hat sich damit beschäftigt, weil sie fürchtete, dass durch den Schleier jemand gewürgt werden könnte. Aber die Verbände tun so viel wie möglich, um die kulturellen Gewohnheiten zu berücksichtigen.

Und was ist Ihre persönliche Meinung?

Im Sport geht es um sportliche Ausrüstung und die sollte nicht gefährlich sein. Die Fifa sagt doch auch, dass man nicht mit herunterhängenden Socken spielen darf. Warum? Weil sonst der Schienbeinschützer verrutschen könnte. Dann bekommst du eine Gelbe Karte. Das ist eine weise Entscheidung. Wir bestehen auch auf den Kopfschutz für Boxer, selbst im Training, sonst wird der Athlet bestraft.

Manche Schleier sehen inzwischen wie Badekappen aus. Also wo liegt die Verletzungsgefahr, fragen sich Muslime?

Grundsätzlich gibt es für uns auch keine Bedenken. Wir haben in der olympischen Bewegung Menschen aus unterschiedlichen Glaubensrichtungen. Juden mit Kippa, Sikhs mit Turban, Muslime mit Schleiern. Niemand hat ein Problem damit.

Ist denn die Botschaft an junge Muslima: Schaut euch erst die Regeln des jeweiligen Fachverbands an und entscheidet euch dann erst für eine Sportart, in der ihr spielen dürft?

Ich kann keine einzelnen Fälle kommentieren , aber lassen Sie mich für die Verbände insgesamt sagen, dass es ihnen wirklich um Fairness und den gesundheitlichen Schutz der Athleten geht. Für das IOC geht es darum: Abgesehen von Propaganda ist alles erlaubt. Wir würden nicht zulassen, dass sich eine Religion mit der anderen vergleicht. Aber wenn jemand ein Kreuz um den Hals hängen hat an einer Kette, kann er das tun. Viele Athleten bekreuzigen sich vor dem Wettkampf, das können sie gerne tun. Was wir nicht wollen, sind zum Beispiel T-Shirts mit dem Aufdruck: Gott ist groß. Dies könnte z.B. andere Athleten persönlich verletzen. Der Sport ist universell, das ist seine große Kraft und Respekt unter den Athleten und Teams ist ausschlaggebend, um die außergewöhnliche Wirkung, die von den Spielen ausgeht, zu erhalten. In der Regel haben wir hiermit keine Probleme.

Werden die Jugendspiele die pädagogischen Olympischen Spiele?
Olympische Jugendspiele würden Ihr Ziel verfehlen, wenn Sie nur eine andere Form von Jugend-Weltmeisterschaften wären. Ich hätte nicht so viel Zeit und Mühe in sie investieren wollen, wenn sie nicht diese erzieherische Seite hätten.

Das Programm ist von den gemischten Wettbewerben abgesehen das der Olympischen Spiele. Es gibt keine „Jugenddisziplinen“.

Es gibt welche. Schauen Sie sich die Radwettbewerbe an, das ist eine Kombination aus Straßenrennen, Mountainbike, BMX, eine Art Mehrkampf des Radfahrens. Es ist etwas Neues. Oder auch Basketball mit drei gegen drei. Wir schließen für die zweite Auflage der Spiele keine weiteren Experimente aus. Aber wir wollten beim ersten Mal eine solide Grundlage legen, die größtenteils auf dem traditionellen Modell basiert. Das ist auch das, was die Athleten wollen. Ein Event, bei dem sie einen Titel gewinnen können, einen Wettbewerb, der aus dem besteht, was sie tun. Dadurch dass aber all Athleten zusammen in einem Dorf wohnen werden, werden sie automatisch in Kontakt mit anderen Sportarten kommen. Sie werden ihre Sportarten nicht mehr wechseln. Aber sie werden Leute aus anderen Sportarten treffen und kennen lernen. Es wird viel Austausch geben.

Jugendliche treiben heute anders Sport, fahren Skateboard oder Mountainbike. Ist es noch zeitgemäß, traditionelle Disziplinen anzubieten?

Auch heute noch will jeder gegen den Ball kicken. Das hat sich nicht geändert. Mountainbike, Snowboard, BMX oder Windsurfen haben eine besondere Anziehungskraft. Aber wir haben sie schon in die traditionellen Olympischen Spiele eingeführt. Wir sollten auch einen Faktor nicht vergessen: Universalität. Die Leute reden über Mountainbiken. Ja, sehr populär – in reichen Ländern. Mountainbiken ist für jemand in den Entwicklungsländern sehr teuer, dort wollen sie laufen, Fußball oder Rugby spielen.

Und wie wollen Sie darauf reagieren, dass Jugendliche sich heute nicht mehr auf eine Sportart festlegen, sondern von einer zur anderen springen und manchmal nur Monate oder Wochen bleiben?

Darum habe ich mir nie große Sorgen gemacht. Die Teilnehmer an unseren Jugendspielen sind gefestigt, sie haben sich entschieden und bereits sehr gut in ihrer Sportart. Und insgesamt ist es für junge Menschen gut, hin- und herzuspringen zwischen verschiedenen Sportarten.

Sie selbst waren Olympiasegler und Rugby-Nationalspieler.

Ich habe es auch mit meinen eigenen Kindern so gemacht. Ich habe sie erst zum Schwimmen geschickt, weil ich wollte, dass sie schwimmen lernen. Dann sind sie Wettkampfschwimmer geworden. Ich musste sie um sechs morgens zum Klub bringen, weil dann die erste Trainingseinheit stattfand, meine Frau hat sie um halb fünf nachmittags von der Schule abgeholt und wieder zum Schwimmen gebracht. Dann sind sie zur Leichtathletik gewechselt. Und schließlich beim Segeln gelandet, weil der Apfel nicht weit vom Stamm fällt. Verschiedene Sachen auszuprobieren ist gut und fördert die Entwicklung verschiedener Fähigkeiten, dann können sie später aus einer großen Auswahl selbst entscheiden.

Was werden die jungen Generationen in den reichen Ländern von den Jugendspielen haben?

In den reichen Ländern sitzen sie oft, 20 bis 25 Stunden in der Woche vor dem Fernseher oder Computer oder schreiben SMS. Sie brauchen Vorbilder in ihrem Alter, die ihnen etwas anders zeigen. Wenn ich da vorne sitzen und erzählen würde, würden alle einschlafen. Deshalb holen wir Athleten und Vorbilder zu den Jugendspielen, Jelena Isinbajewa, Usain Bolt, 30 bis 35 Champions, die in Diskussionsgruppen erzählen, wie ihr Leben verlaufen ist. Davon werden Athleten bei den Jugendspielen viel haben, aber auch viele Jugendliche auf der ganzen Welt, mit denen diese Champions über moderne Kommunikationsplattformen in Kontakt treten

Werden die Jugendspiele auch die Olympischen Spiele verändern?

Sie werden sie bestimmt beeinflussen. Ich glaube, dass es künftig mehr gemischte Wettbewerbe geben wird. Also solche, mit denen wir jetzt bei den Jugendspielen experimentieren. Ich glaube, das Format der Radwettbewerbe könnte eines Tages von den großen Spielen übernommen werden.

Werden wir eines Tages bessere Olympiasieger haben, weil sie durch die Jugendspiele gegangen sind, gesungen und getanzt haben?

Ich würde es mir wünschen. Ich habe keine Gewissheit, nur einen Glauben. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es ein einmaliges, prägendes Erlebnis ist, an Olympischen Spielen teilzunehmen.

Das Gespräch führte Friedhard Teuffel.

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