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© DPA

Sport: Im Heulen vereint

Silke Spiegelburg und Markus Esser lassen ihren Tränen freien Lauf

Markus Essers Tränen lösten das größte Mitgefühl aus. Es ist hart, wenn ein Kerl, der Oberschenkel wie junge Eichen hat und Oberarme, die Rambo gehören könnten, wenn so ein Kerl dasitzt, die Füße angezogen hat und hemmungslos weint wie ein Kind. Das war härter als die Tränen von Silke Spiegelburg. Die ist eine eher zarte Person. Doch in ihrer Trauer, im Gefühl, eine Riesenchance vergeben zu haben, da unterschieden sie sich nicht.

Sie hatten eine Medaille vor Augen, die Stabhochspringerin Spiegelburg und der Hammerwerfer Esser. Selten ist es so leicht gewesen, eine WM-Medaille zu gewinnen wie in Berlin. Am Montag feierte das ganze Stadion die Silbermedaillen von Siebenkämpferin Jennifer Oeser und Kugelstoßerin Nadine Kleinert. Am Dienstag trauerte das Stadion mit Esser und Spiegelburg. Es war die Stunde der Gescheiterten.

Es war eine Stunde nach Wettkampf-Ende, in den Katakomben des Olympiastadions traten auf: der gnadenlose Richter Esser und der verbitterte Ankläger Esser. Den Verteidiger Esser, den gab es nicht. „Ich habe heute den schlechtesten Wettkampf meines Lebens geliefert“, verkündete der 29-Jährige. „Ich habe es nicht verdient, dass ich eine Medaille hole, wenn ich so eine Leistung liefere.“ Besonders verwerflich: die Zumutungen für die eigene Familie. Die war extra nach Berlin gekommen, sie wollte den Papa und Gatten werfen sehen. Aber dann, sagt Esser, „liefere ich so einen Wettkampf ab“. 78,09 Meter hätten zu Bronze gereicht, 79,43 Meter hatte Esser vor drei Wochen geworfen, aber in Berlin plumpste sein Hammer nach 76,58 Meter in den Rasen. Das war Platz sechs.

Entlastende Punkte: keine, das war ja das Schlimmste. Kein Argument für den Verteidiger Esser. Der Ring, das Publikum, die körperliche Fitness, alles wunderbar. „Ich habe keine Erklärung für diese Vorstellung.“ Schuldig in allen Punkten. Zwischendrin, zwischen all den Selbstanklagen, da standen Esser fast wieder Tränen in den Augen. Dass er seine Familie enttäuscht hatte, das war für ihn am schlimmsten.

Morgens hatte ihn ein Teamkollege noch mit einem Spruch launig motiviert. „Wem die Götter hold sind, der wird belohnt.“ Esser zitierte am Abend den Satz, dann kniff er die Lippen zusammen und ließ ihn wirken. Dann verkündete er grimmig das Urteil in eigener Sache: „In diesem Jahr rühre ich keinen Hammer mehr an.“

Silke Spiegelburg hatte zumindest eine Erklärung für ihren vierten Platz. Sie hätte die Latte näher an den Einstichkasten setzen müssen. Bei 4,75 Meter hatte sie einen härteren Stab genommen, das war ja in Ordnung, aber sie hätte auch die Latte verschieben lassen müssen, entsprechend der Stabhärte. Die 4,65 Meter hatte sie mit einem weicheren Stab problemlos überquert, sie dachte, eine Korrektur sei nicht nötig. Sie war ja auch fast drüber über 4,75 Meter, damit hätte sie sogar um Gold kämpfen können. Aber die Latte fiel, und die 23-Jährige landete mit 4,65 Metern nur auf Rang vier. Mit 4,65 Meter gingen auch Silber und Bronze weg, aber die Leverkusenerin hatte mehr Fehlversuche. Gold gewann die Polin Anna Rogowska mit 4,75 Metern.

Aber sie gewann nur, weil die Doppel-Weltmeisterin Jelena Isinbajewa, die große Favoritin, keinen einzigen gültigen Versuch hatte. Das war die große Chance der Silke Spiegelburg.

Am Dienstagmorgen hatte sich die 23-Jährige wieder einigermaßen gefangen. „Ich habe mein Lächeln wiedergefunden“, sagte sie. „Doch so knapp auszuscheiden, das war schon bitter.“ Wenigstens ist Rang vier ihre beste internationale Platzierung. Sie hatte ja auch schon ganz andere Momente durchgemacht. Lauter ungültige Versuche, das kennt sie. 2007, bei der WM, da war sie kein einziges Mal über die Latte gekommen.

Deshalb kann sie ja mitfühlen mit Isinbajewa. „Sie ist auch nur ein Mensch, sie schwächelt auch mal. Man kann sie besiegen.“ Es ist Mitgefühl und Trost zugleich, Mitgefühl für die andere, Trost für sich. Sportlich sind die Unterschiede trotzdem noch da, doch in der Trauer, da verschwinden sie.

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