zum Hauptinhalt
Zaunkönig. Jürgen Klopp hat ein Stück Mainz mit nach Dortmund genommen. Foto: firo

© firo

Sport: In der Kopie ein Original

Beim heutigen Spitzenspiel Mainz gegen Dortmund treffen sich zwei Klubs, die sich gerade neu erfinden

Es läuft die gefühlvollste Nachspielzeit des Mainzer Fußballs. 20 000 Menschen erleben sie mit, so viele wie sonst ins Bruchwegstadion sind an diesem Tag auf den Gutenbergplatz gekommen. Jürgen Klopp nimmt Abschied, nach 18 Jahren als Spieler und Trainer beim FSV Mainz 05. Das Reden fällt ihm nicht so leicht wie sonst. Die Stimme versagt ihm. „Alles, was ich bin“, stammelt er unter Tränen, „alles, was ich kann, habt ihr mich werden lassen. Alles!“ Eine Liebesgeschichte im Fußball ist zu Ende gegangen, und in der Luft liegt an diesem Maitag 2008 die Befürchtung, dass beide alleine nicht mehr zurechtkommen werden, Klopp ohne Mainz nicht und Mainz ohne Klopp nicht.

Es kam alles anders: Gerade läuft die glücklichste Spielzeit des Mainzer Fußballs. Der ranghöchste Klub im deutschen Fußball heißt Mainz 05, am Sonntag kommt die alte Liebe Jürgen Klopp zu Besuch, als Tabellenzweiter mit Borussia Dortmund. Nach zwei Trennungsjahren sind beide so erfolgreich wie noch nie.

Eine Erklärung gibt es auch dafür: Mainz hat viel von dem dabehalten, was Klopp eingeführt hat. Und Klopp hat einiges aus Mainz mitgenommen. Gutes Personal zum Beispiel, wie Zeljko Buvac, mit dem Klopp schon als Profi zusammengespielt hatte. Buvac redet zwar nicht viel, gilt aber als herausragender taktischer Fachmann. Sein Fußballwissen hat ihm den Beinamen „Das Gehirn“ eingebracht. Klopps Trauzeuge Peter Krawietz kümmert sich um die Videoanalyse, wichtige Sequenzen werden auch schon mal in der Halbzeit vorgeführt. Zusammen hat das Trio dem BVB eine Spielphilosophie verpasst, mit der die jungen Spieler jede Menge Begeisterung erzeugen. Auch das aufwendige System, das auf hoher Laufbereitschaft, taktischer Ordnung und gesteigerter Leidenschaft fußt, hat Klopp aus Mainz mitgebracht. Was der Trainer sehen will, nennt er „Vollgasveranstaltung“.

Es ist nicht übertrieben, die Borussia nun ein wenig mainzerisch zu nennen. Dortmund hatte seine Orientierung verloren, die Insolvenz drohte. Klopp hat dem BVB ein Stück Identität zurückgegeben. Die Veränderung von außen wertet den Erfolg der handelnden Personen in Dortmund nicht ab. Im Gegenteil. Sportdirektor Michael Zorc und Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke können für sich in Anspruch nehmen, Klopps Gesamtpaket für ihren Verein bislang äußerst gewinnbringend genutzt zu haben. Das gilt auch für die Außendarstellung. Die Dortmunder setzen voll auf die Ausstrahlung des Medienprofis Jürgen Klopp, der jüngst für seine Auftritte als Fußballexperte mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde. Noch bevor er in Dortmund offiziell vorgestellt worden war, ließen die Macher entlang der B 1 große Plakatwände aufstellen, um mit Klopps Konterfei für den Kauf von Dauerkarten zu werben. Und beim Fernsehspot, in dem das neue Trikot angepriesen wird, liefert er mit seiner Kabinenansprache eine bemerkenswerte schauspielerische Leistung ab.

Auch deshalb bezeichnet Zorc den Trainer als „besten Transfer, den ich jemals getätigt habe“. Davon wollen sie im Revier noch so lange wie möglich etwas haben. Jüngst hat Geschäftsführer Watzke bekräftigt, mit Klopp eine Ära bestreiten zu wollen. Wenn Dortmunds Liebling seinen bis 2012 befristeten Vertrag frühzeitig verlängern wolle, so Watzke, „können wir das sofort machen. Gern auch unbefristet.“

In Mainz können die Dortmunder sehen, was von der Ära Klopp übrig geblieben ist. Klopps größte Leistung in Mainz war es, den Klub, mehr noch, die Stadt, angesteckt zu haben mit seiner Begeisterung für den Fußball. Seine Definition davon lautet: „Begeisterung ist das, wo du nicht mehr weißt: Zuckst du jetzt wegen einer Fehlfunktion deines Körpers oder weil da unten auf dem Rasen die Post abgeht?“ Auch dem Mainzer Trainer Thomas Tuchel geht es bei aller Raumordnung und Systematik immer auch um den Unterhaltungswert der Vorstellung.

So wie sich der BVB verändert und etwas zurückgewonnen hat, so könnte der FSV Mainz 05 allerdings auch etwas verlieren: die bisher noch charmante Art. Der Verein und sein Publikum könnten sich an den Erfolg gewöhnen, ihn erwarten, fordern und darüber noch die gesellige, manchmal selbstironische Art verlieren. In Mainz dürfen die gegnerischen Fans bislang die Aufstellung ihrer Mannschaft mitbrüllen, ohne Pfiffe der Heimfans.

Heidel macht sich um die Stimmung keine Sorgen. „Wir wollen doch gar kein anderer Verein sein“, sagt er. „Und auch nach der Niederlage gegen Hamburg sind die Zuschauer noch lange geblieben und haben die Mannschaft gefeiert.“ In Mainz ist wohl noch einiges von dem Impfstoff gegen Erwartungsdruck und Größenwahn vorhanden. Es ist die Erinnerung ans Scheitern. Dreimal hatten die Mainzer in den vergangenen Jahren am letzten Spieltag den Aufstieg in die Bundesliga verpasst. Einmal sind sie auch schon wieder abgestiegen aus der Ersten Liga. Das hat den Verein mindestens so geprägt wie der Erfolg. „Auf ein Hoch kommt ein Tief“, sagt Heidel jetzt, der sich darüber amüsiert, dass ihn immer noch täglich Journalisten aus dem Ausland anriefen und fragten, wie der neue Investor des Klubs heiße. „Wir haben nicht einen Cent mehr als im vergangenen Jahr.“ Der Klub wächst nach wie vor langsam. Als Mainz 05 aus der Ersten Liga abstieg, musste der Verein nur bei den 400-Euro- Kräften sparen und niemanden entlassen. Derzeit beschäftigt er 80 Leute fest – die kickenden Angestellten eingerechnet.

Im nächsten Jahr wird etwas passieren, was alles verändern könnte. Der Klub zieht um. Nur ein paar hundert Meter weiter zwar, hinter die Universität an die Obstbäume vor den Toren der Stadt. Aber im Verein wissen sie um die Brisanz des Projekts. „Wir haben nur einen Schuss frei“, sagt einer, „die Leute müssen gleich am Anfang mit großen Augen reingehen und wieder rausgehen.“ Das Bruchwegstadion fasst etwa 21 000 Besucher, 15 000 von ihnen haben eine Dauerkarte, seit 2004 sind es größtenteils dieselben. Im neuen Stadion kommen 13 000 Zuschauer dazu, möglicherweise viele Eventfans mit gesteigerten Ansprüchen. Heidel sagt: „Es wird ein reines Fußballstadion mit vier Tribünen und hat mit anderen Events nix zu tun. Wir haben das alte Stadion im Wesentlichen kopiert.“

Auch in einer Kopie ein Original zu bleiben, das steht schon mal als Ziel für die nächste Saison fest.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false