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Mit Schmerzen zu Gold. Es war kein idealer Wettkampf für Robert Harting, doch er biss sich durch. Mit 27 ist der Berliner am Ziel

© AFP

Sport: In der S-Bahn durch die Nacht

Diskuswerfer ROBERT HARTING feiert seinen Olympiasieg ausgelassen: Erst wird er bestohlen, dann sperrt er sich aus.

Immer diese verdammten Kampfrichter, nichts erlauben sie. „No, no, no“, schrien sie Robert Harting an. „Yes, yes, yes“, brüllte Harting zurück. Er wollte doch jetzt bloß der olympischen Flamme ganz nahe sein oder wenigstens den schlanken Stahlrohren, auf denen sie lodert. Er konnte das ausströmende Gas doch schon hören. „No“, schrien die Kampfrichter und versuchten ihn abzudrängen. Das war schon mal sehr mutig, immerhin stand ihr Gegner mit freiem Oberkörper da, einem, der jeden Türsteher beeindruckt hätte. Offenbar hatten die Kampfrichter nicht gesehen, wie Harting sein Trikot gerade mit zwei schnellen Bewegungen zerrissen hatte. Vor allem aber: Er war gerade Olympiasieger im Diskuswerfen geworden, so einer drückt in seiner Euphorie ein paar Kampfrichter notfalls einfach zur Seite.

Aber Harting ließ letztlich doch ab, kurz darauf hatte er ein anderes Ziel erkannt. Da standen doch die Hürden fürs 100m-Finale der Frauen. Über diese Hindernisse wollte er. Wieder schrien Kampfrichter „no“, wieder brüllte Harting „yes“. Sollten sie doch schreien, er hüpfte jetzt, wenn auch nicht ganz so elegant wie die Spezialistinnen. „Aber ich habe keine Hürden umgeworfen, war doch also gar nicht schlecht“, sagte er später grinsend.

Ganz starke Einlage, immerhin hatte der springende Koloss eine halbe Stunde zuvor im Ring seine Beine „nicht mehr gespürt“. In seinem letzten Versuch warf der 27-Jährige quasi nur noch mit der mächtigen Kraft seiner Arme. Aber mit denen entwickelt er die „Kraft von sieben PS“. Mit diesen sieben PS trieb er die Scheibe 67,08 Meter weit. Silber hatte er schon sicher, weil er im fünften Versuch 68,27 Meter geworfen hatte. Jetzt würde es sich entscheiden: Platz eins oder zwei? Nach ihm kam nur noch der Iraner Ehsan Hadadi, den Harting im fünften Versuch von Platz eins abgelöst hatte.

Harting lief ruhelos auf und ab, „ich konnte ja nichts mehr machen, man fühlt sich so hilflos“. Dann flog Hadadis Scheibe durch die Londoner Nachtluft, Harting blickte ihr hinterher und dachte: „Verdammt, die fliegt nicht schlecht.“ Sie flog aber nicht weit genug, Hadadi machte den Versuch ungültig. Und Robert Harting, Doppel-Weltmeister, Europameister, seit 29 Wettkämpfen in Folge unbesiegt, hatte seine schönste Medaille gewonnen. Und dieser Druck war weg. Der Druck durch die Medien, durch die Fans, der Druck, den er sich selber gemacht hatte. „Ich bin schon sehr erleichtert.“

Eine Stunde nach seinem Triumph wirkte er immer noch einerseits hocheuphorisch, andererseits entrückt, als könnte er das alles noch gar nicht fassen. „Ich kann das, glaube ich, erst in ein paar Stunden begreifen“, sagte er denn auch. Gegen sein schmerzendes Knie drückte er einen Eisbeutel.

Vor seinem Triumph, zwischen dem ersten und dem vierten Versuch war er vor allem hochgradig frustriert. Als er mitten in der Konzentration zu seinem ersten Wurf war, mit Tunnelblick im Ring, knallte der Startschuss zum ersten 800-Meter-Halbfinale. Weg war der Tunnelblick, weg war auch die Konzentration. Die Scheibe flog aber wenigstens noch 67,79 Meter weit. Beim zweiten Versuch schaffte er den Tunnelblick schon gar nicht mehr. Auf der Bahn rannten die Athleten des zweiten 800-Meter-Laufs, ein Brite war im Feld, und das Publikum tobte, als würde gerade die Queen am Fallschirm vom Himmel schweben. „Die WM 2009 in Berlin war ja schon laut“, sagte Harting, „aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Es war so laut, dass ich nicht mal mehr denken konnte. Das ist wirklich unglaublich.“ Er setzte den Diskus ins Netz des Käfigs.

Im dritten Versuch, Harting hätte es als Vorwarnung erkennen können, nervte ein Kampfrichter. Ihn störte das Handtuch, das der Doppel-Weltmeister neben den Wurfkreis geworfen hatte. Zu nah am Ring, weg mit dem Ding. Also schnappte sich Harting das Handtuch. Jetzt war es weg. Seine Konzentration allerdings auch. Der Diskus landete nach 67,27 Metern. „Du stehst in einem olympischen Finale, und drei Versuche sind durch so etwas weg“, knurrte er.

Da wusste er noch nicht, dass Ordner auch in der Nacht noch eine bedeutsame Rolle für ihn spielen sollten. Sie ließen ihn nämlich nicht ins olympische Dorf. Harting war auf der MS Deutschland bestohlen worden und hatte keine Akkreditierung mehr. Die restliche Nacht verbrachte er deshalb in der S-Bahn, auf einem Stuhl und auf einem Teppich.

Mit einer Ersatzakkreditierung tauchte er um 8.10 Uhr am Eingang des olympischen Dorfs auf. Die Ordner ließen ihn rein.

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