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Die bunte Welt des Sport. Das Training des inklusiven Sportvereins SV Pfefferwerk in der Max-Schmeling-Halle in Berlin-Prenzlauer Berg.

© Thilo Rückeis

Inklusion: Sport barrierefrei - für viele Vereine eine Last

Wer behindert ist und Sport treiben will, hat es nicht leicht. Angebote sind spärlich, denn viele Vereine sehen das Thema Inklusion immer noch als Last. Die Bundesregierung plant auch deshalb neue Gesetze – aber es braucht noch mehr.

Von Johannes Nedo

Während die anderen Kinder schon in der Hüpfburg herumtollen und sich die Bälle zuwerfen, steht Ida nur davor und schaut ihnen zu. Sie ist auch nicht so schnell zur Hüpfburg gerannt wie die anderen. Die Achtjährige hat das Down-Syndrom, die anderen springenden Kinder haben keine Behinderung. Ida sieht anders aus als sie, Ida benimmt sich anders als sie. Aber nur kurze Zeit später werfen sie ihr wie selbstverständlich die Bälle zu, und Ida wirft sie zurück, selbstverständlich. Dann zieht sie flugs ihre Turnschuhe aus und hüpft ausgelassen zusammen mit den anderen Kindern. Wer jetzt anders aussieht, ist gar nicht mehr zu erkennen. Alle springen wild mit den Bällen durcheinander.

Für das, was sich da vor ein paar Tagen in einer Nebenhalle der Berliner Max-Schmeling-Halle zugetragen hat, gibt es gerade ein sehr angesagtes Wort: Inklusion. Mit dem ebenso angesagten Zusatz: im Sport. Und wenn man Ida und ihren Spielkameraden zusieht, wirkt das wie die normalste Sache der Welt. Behinderte Kinder treiben zusammen mit nicht behinderten Kindern Sport. Den Rahmen dafür schafft der SV Pfefferwerk. Die Fünf- bis Achtjährigen verausgaben sich bei Bewegungsspielen – mit Hüpfburgen und Bällen, aber ohne Ergebnisse und Bestenlisten. In Idas Gruppe sind am Donnerstag 17 Kinder, fünf davon haben ein Handicap. Der Verein aus Prenzlauer Berg bietet Dutzende solcher Sportgruppen für Kinder und Jugendliche an. In manchen sind mehr Behinderte, in anderen weniger, doch sie sind fast überall dabei. Exakte Zahlen, wie viele Behinderte die Angebote nutzen, kann Oliver Klar nicht nennen. Und dafür hat der Sportintegrationsberater des SV Pfefferwerk eine ganz einfache Erklärung: „Wir machen da ja gar keinen Unterschied.“

So wie der SV Pfefferwerk inklusiven Sport anbietet, kommt es dem Ideal sehr nahe. Egal wie unterschiedlich die jungen Freizeitsportler sind, dick, dünn, männlich, weiblich, behindert, nicht behindert, sie machen es gemeinsam. Und das nicht nur in Bewegungsspiel-Gruppen, sondern unter anderem auch im Fußball.

Das Problem ist nur: Von den mehr als 91.000 Sportvereinen in Deutschland hat sich bisher lediglich ein winziger Bruchteil der Inklusion verschrieben. Am konkreten Beispiel der inklusiven Pfefferwerk-Fußballmannschaft heißt das: Beim nächsten Berliner Turnier wird sie wahrscheinlich nur gegen ein Team antreten.

So schön Inklusion im Sport ist, es gibt noch viel zu wenig davon. Das soll sich ändern, am besten sofort. „Es ist gerade ein gutes Zeitfenster dafür“, sagt Thomas Härtel, der Vizepräsident des Deutschen Behinderten-Sportverbands (DBS). Derzeit bewegt sich in diesem Bereich tatsächlich viel. Es gibt zahlreiche Initiativen, Projekte und Pläne. So hat der DBS kürzlich einen „Index für Inklusion im und durch Sport“ veröffentlicht. Die 112 Seiten lange Publikation soll ein Wegweiser für die Vereine sein, wie sie Inklusion innerhalb ihrer Strukturen fördern und ausbauen können. Der Index enthält viele praktische Hinweise, aber auch einen großen Fragenkatalog. „Das ist kein Konzept, das die Vereine abarbeiten sollen“, betont Härtel. „Denn es gibt nicht das eine Konzept. Die Leute müssen herausfinden, was für sie vor Ort möglich ist.“ 10 000 Exemplare wurden gedruckt. Jeder Verein kann den Index kostenlos anfordern oder im Internet herunterladen.

Der Jahnsportpark soll in eine Inklusionssportanlage umgebaut werden

Auch in Berlin tut sich einiges. Der Jahnsportpark soll in eine Inklusionssportanlage umgebaut werden. Und zu einer Fachtagung zu Inklusion im Sport, die der Landessportbund am Samstag in Berlin veranstaltet hat, kamen mehr als 110 Teilnehmer. Die Nachfrage war so groß, dass manche Interessierte auf die nächste Tagung vertröstet werden mussten.

Zudem laufen derzeit einige Gesetzesvorhaben der Bundesregierung, die viele Inklusionsbestrebungen beschleunigen könnten. Etwa das Präventionsgesetz zur Gesundheitsvorsorge oder das Bundes- Teilhabe-Gesetz. Denkbare Verbesserungen reichen von mehr finanziellen Mitteln für den Inklusionssport bis zu der Möglichkeit, dass Menschen mit Behinderung bald sogar sportliche Angebote für sich bei jedem Verein einfordern könnten. Nahezu radikale Veränderungen wären das.

Bei all der Euphorie und all dem neuen Interesse rund um Inklusion im Sport warnt Oliver Klar aber auch. „Wir sind jetzt an einem entscheidenden Punkt“, betont der 35-Jährige vom SV Pfefferwerk. „Wenn jetzt nicht nachgelegt wird, dann kippt es. Dann könnte all die Neugier in Ablehnung umschlagen.“ Denn Aktive wie Klar, die seit langem an der Basis tätig sind, wissen genauso: Das Thema Inklusion ist auch kritisch besetzt.

Es gibt immer noch viele Menschen, die denken, wenn ein Kind wie Ida mit nicht behinderten Kindern in der Sportgruppe ist, wirke sich das negativ auf die Entwicklung des eigenen Kindes aus. Schließlich schreit Ida ja immer mal wieder, sabbert oder verhält sich anders als die anderen. Dass ein Umgang mit Menschen wie Ida einem nichtbehinderten Kind jedoch auch viel geben kann, wird oft übersehen – etwa die so oft gewünschten sozialen Kompetenzen. Zudem belegen Untersuchungen, dass sich das Klima innerhalb einer Gruppe verbessert, sobald ein behinderter Mensch dabei ist, und dass Kinder oft sogar mehr lernen, wenn sie in einer inklusiven Gruppe sind.

„Die größten Baustellen sind die Angst und die Unsicherheit der Menschen“, sagt Oliver Klar. Und seine Mitstreiterin Jutta Schlochtermeyer stellt heraus: „Viele Sportvereine sehen Inklusion eher als eine Last denn als eine Bereicherung.“ Die 61-Jährige ist Inklusionsbeauftragte des Behinderten-Sportverbandes Niedersachsen und saß gemeinsam mit Klar in dem Arbeitsforum, das den Inklusions-Index entwickelt hat. Seit 35 Jahren engagiert sie sich im Behindertensport, in dieser Zeit hat sich vieles zum Besseren gewandelt. Doch dieses Last-Argument hört Schlochtermeyer noch immer am häufigsten. „Die Mehrzahl der Vereine sagt: Wir können das einfach nicht leisten.“

Viele wissen nicht, was sich hinter dem Begriff "Inklusion" verbirgt

Dabei scheitert es meist schon daran, dass viele gar nicht wissen, was sich genau hinter dem Begriff Inklusion im Sport verbirgt – und dass dazu bereits die Willkommenskultur eines Vereins gehört. Also: Fühlen sich Menschen mit einem Handicap überhaupt ermuntert, Kontakt zu einem Verein aufzunehmen? Schon das ist Inklusion. Doch weil zahlreiche Verantwortliche in den Sportklubs (und nicht nur da) kaum einen Zugang zu der Thematik haben, fühlen sie sich überfordert, wenn sie nur den Begriff hören.

Diese Ängste kennt auch Guido Kersten. Er ist Präsident des Schwimmvereins Berliner Wasserratten, und er ist einseitig arm- sowie schulteramputiert. Wenn er anderen Trainern von der Arbeit seines inklusiven Vereins erzählt, werden auch ihm immer wieder die gleichen Fragen gestellt: Wie sollen wir denn einem querschnittsgelähmten Kind das Schwimmen beibringen? Oder: Wie sollen wir denn einem blinden Kind sagen, wo es hinschwimmen soll? „Diese Unsicherheit kommt daher, dass es nicht genug Berührungspunkte zwischen Behinderten und Nichtbehinderten gibt“, sagt Kersten.

Um das zu erreichen, gehört für den 50- Jährigen zur Inklusion auch, Sportstätten und deren Infrastruktur so zu gestalten, dass sie inklusive Angebote überhaupt zulassen. Mit Rampen, rollstuhlgerechten Duschen und Toiletten sowie geräumigen Umkleidekabinen. Ohne Barrieren eben. „Natürlich ist das teuer“, sagt Kersten. Oft gebe es dafür aber auch einfache Lösungen. „Wir sind doch pragmatisch. Und am Ende profitieren alle davon, nicht nur Behinderte.“ Das Thema Finanzierung treibt auch Oliver Klar um. Er betont: „Inklusion kostet nun mal Geld. Nur allein mit Idealismus kann man das nicht umsetzen.“

Und wenn man mal etwas Geld in die Hand nimmt – das müssen gar keine Millionenbeträge sein, man muss sie nur zielgerichtet einsetzen – dann kann man schon beachtliche Instrumente erstellen, die den Vereinen konkret bei Inklusionsinitiativen helfen. So geschehen in Niedersachsen, bei Jutta Schlochtermeyer. Der dortige Landessportbund hat seit Mai eine Referentenstelle für Inklusion geschaffen. Außerdem können die Vereine für Inklusionsprojekte finanzielle Zuschüsse beantragen, um für ihre Angebote auch zusätzliche Assistenten bezahlen zu können. Und es wurde ein mit insgesamt 10 000 Euro dotierter Inklusionspreis ausgeschrieben.

Es gibt noch viel zu tun. Wohin wird sich die Inklusionsthematik in dieser entscheidenden Phase entwickeln? Mit all dem Auftrieb – und angesichts all der Schwierigkeiten. Wichtig wird dabei sein, dass alle Beteiligten erkennen, wie viel sie aus gelebter Inklusion ziehen können. Das kann wohl nur langsam funktionieren, sachte, aber dann hat es Aussicht auf Erfolg – so wie bei einer weiteren Situation zwischen Ida und einem nichtbehinderten Jungen in der Sportgruppe beim SV Pfefferwerk.

Während eines Fangenspiels müssen sich die erwischten Kinder auf den Boden legen, die anderen können sie mit einer kurzen Berührung wieder erwecken. Vorsichtig nähert sich Ida dem Jungen, der auf dem Boden liegt. Schüchtern berührt sie ihn sanft an der Schulter. Und der Junge? Springt auf, umarmt Ida – und beide flitzen zusammen weiter.

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