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© dpa

Interview: "Wir müssen unsere Scheu verlieren"

Willi Lemke spricht im Tagesspiegel-Interview über den richtigen Umgang mit Behinderten und den Wert der Paralympics

Herr Lemke, wir wollen mit Ihnen über Behindertensport reden.



Entschuldigung, aber ich finde schon den Begriff nicht richtig. Es gibt Menschen, die eine Behinderung haben, eine Beschränkung oder Beeinträchtigung – egal ob sie jetzt körperlich oder geistig ist. Aber sie sind nicht behindert, und wir sind nicht normal. Das habe ich gelernt.

Wie lernt man das?

In meiner Rolle als Sonderberater der Vereinten Nationen setze ich mich für paralympische Sportler ein. Meist kommen ja die Sportler mit Behinderung nur am Rande vor – bei Sponsoren, in den Medien, auch in der Selbstwahrnehmung des Sports. Als ich noch Manager in der Bundesliga war, lag das auch außerhalb meines Blickfeldes. Aber inzwischen sehe ich die besonderen Leistungen dieser Menschen mit anderen Augen, auch nachdem ich die Paralympics in Peking und die Special Olympics für Menschen mit geistiger Behinderung besucht habe.

Was haben Sie dort erlebt?

Bei einer Siegerehrung in Peking, die ich vornehmen durfte, sah ich einen Schwimmer, der keine Arme und nur ein Bein hatte. Als er aus dem Becken kam, wollte er ein Signal der Freude senden. Da klatschte er mit dem Fuß seines heilen Beines ins Wasser und später auf den Boden – jeder konnte seine Emotionen spüren. Diese Szene hat mich berührt. Ich bin seit Jahrzehnten im Sport aktiv und habe gemerkt, dass die Übertragung von Freude das Schönste ist. So unbändige Begeisterung habe ich nur bei paralympischen Sportlern erlebt – auch bei Athleten, die den letzten Rang belegten.

Ist diese Freude auf eine gewisse Art ursprünglicher, weil sie sich aus mehr zusammensetzt als sportlichem Erfolg?

Mein Empfinden ist, dass die Freude am Sport bei Athleten mit Behinderung größer ist als bei den Superstars des Sports. Intensiver habe ich das bei jenen mit geistiger Behinderung erlebt. Ich weiß noch, wie die kanadische Hockeymannschaft gegen das afghanische Team antreten sollte. Die Afghanen kamen mit kaputter Ausrüstung, während bei den Kanadiern alles vom Feinsten war: Schläger, Helme, Kleidung. Da sagten die Kanadier: Wir tauschen die Sachen. Das ist Sportsgeist. Können Sie sich einen Bobfahrer vorstellen, dessen neuester High-Tech-Schlitten ihm einen Vorteil verschafft, und der seinen Bob tauscht? Wenn ich nur an das Theater um die neuen Schwimmanzüge denke: Das ist vom Grundgedanken des Sports sehr weit entfernt.

Aber können solche Erlebnisse wirklich etwas in der Gesellschaft ändern?


Schauen wir nach China: Dort leben 90 Millionen Menschen mit Behinderung. Die haben sich viele Jahre nicht rausgetraut, sie wurden versteckt, eingeschlossen. Sie sollten unsichtbar sein oder machten sich unsichtbar, weil sie sich schämten. Mit den Paralympics wurde ihnen gezeigt, dass auch Menschen mit Behinderungen sich in China nicht mehr verstecken müssen. Das war ein gesellschaftlicher Durchbruch in einem wichtigen, großen Land, aber nur in einem Land. Ich sage immer: Zeigt mir, wie ihr mit Behinderten umgeht, und dann erkenne ich den Wert einer Gesellschaft. In Afrika habe ich ein Fußballspiel von Männern gesehen, die nur ein Bein hatten. Durch Bürgerkriege und Landminen gibt es immer mehr Menschen mit körperlichen Behinderungen. Auch sie sollen durch Sport eine Möglichkeit bekommen, ins Leben zurückzukehren.

Was muss sich in Deutschland ändern?

Es gibt noch viele Hindernisse für Menschen mit Behinderungen. Natürlich kommt man leichter in Busse und Bahnen, aber nicht alle Gebäude sind barrierefrei gebaut. Wichtig ist auch, dass wir unsere Scheu verlieren vor Menschen, die eine Einschränkung haben, dass wir normaler mit ihnen umgehen. Es ist nichts Besonderes, einem Blinden bei der Suche eines Weges zu helfen. Das sollte niemand tun, weil er Dankbarkeit zurückverlangt.

Sie reden am Donnerstag in Berlin bei der Gala des paralympischen Sports. Wie kann sich der Sport noch verändern?

Natürlich haben wir in Deutschland eine Vorreiterrolle. Aber auch der Sport muss sich noch weiterentwickeln: Ich differenziere nicht nach körperlichen und geistigen Beschränkungen. Das sollten auch die verantwortlichen Verbände tun. Sie sollten enger zusammenarbeiten, anstatt sich voneinander abzugrenzen.

Wenn mancher paralympischer Sportler Sie reden hört, wird er sich freuen. Aber vielleicht wird er auch denken: Warum wird meine Leistung nicht gewürdigt?

Mich berühren die Emotionen und der Sportsgeist mehr als die Leistung selbst. Ich habe mal versucht, aus einem Rollstuhl heraus Basketball zu spielen, und gemerkt, wie schwierig das ist. Aber ich schätze mehr noch die Leistung des Einzelnen als die im Vergleich. Manchmal fällt der ja auch schwer, weil die Behinderungen unterschiedlich sind. Mehr berühren mich Erlebnisse, die Menschlichkeit zeigen. Zuletzt sah ich einen deutschen Eiskunstläufer mit Down-Syndrom. Er absolvierte eine einminütige Kür, die für jemanden wie mich relativ einfach aussah, aber ohne Fehler. Nach seinem Vortrag bekam er viel Applaus, Zuschauer warfen Geschenke aufs Eis. Als er losfuhr, um die Plüschtiere einzusammeln, ist er dreimal gestürzt. Erst in diesem Moment hat man gemerkt: Seine Leistung einer fehlerfreien Kür war unglaublich.

Das Gespräch führten Annette Kögel und Robert Ide.

Willi Lemke, 63, ist seit 2008 Sonderberater des UN-Generalsekretärs für Sport. Der SPD-Politiker war von 1981 bis 1999 Manager beim Fußball-Bundesligisten Werder Bremen.

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