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Sport: Irgendwie unwirklich

Der THW Kiel gewinnt sein letztes Punktspiel und wird mit 68:0 Punkten Deutscher Handball-Meister.

„Alfred, Alfred“, skandierten die über zehntausend Fans in der Kieler Arena, als der Isländer Alfred Gislason geehrt wurde als „Trainer des Jahres“. Und als der Schwede Kim Andersson die Trophäe für den besten Handballprofi der Saison 2011/12 entgegen nahm, entfachte das den nächsten Beifallssturm bei den Fans des THW Kiel. „Wenn mir irgendjemand vor der Saison gesagt hätte, dass wir eine solch unglaubliche Saison spielen, dann hätte ich gesagt: Entweder bist Du besoffen oder irgendwie irre“, sagte Andersson nach dem 39:29 (18:16)-Sieg am letzten Spieltag gegen den VfL Gummersbach. „So etwas wird es nie wieder gegeben“, prophezeite Ex-Nationalspieler Daniel Stephan.

Tatsächlich liegt eine Saison hinter dem THW, die historisch ist und sich irgendwie unwirklich anfühlt. Im letzten Jahr noch sieben Punkte hinter dem HSV Handball rangierend, stürmte das Team mit 68:0-Punkten zur Meisterschaft, holte zudem den DHB-Pokal und triumphierte auch in der Champions League. „Natürlich wollten wir eine große Saison spielen, aber dass sie so groß wird, habe ich nicht für möglich gehalten“, sagte Torhüter Thierry Omeyer. Dann ging es auf den Balkon des Kieler Rathauses, wo 20000 Fans die Mannschaft bejubelten.

All das geschah mit furiosem Angriffshandball, basierend auf einem Rückraum der Superlative. Im wichtigsten Mannschaftsteil entwickelten der tschechische Welthandballer Filip Jicha, der französische Olympiasieger Daniel Narcisse und Andersson spektakuläre Wucht. Mit dem Serben Momir Ilic und dem jungen Isländer Aron Palmarsson stehen Backups zur Verfügung, die ohne Qualitätsverlust eingewechselt werden können. Wie überlegen der Kader war, illustrierte das Zitat von Ex-Profi Stefan Kretzschmar vor der Spitzenpartie Kiel gegen die Füchse Berlin (36:28). „Keiner bei den Füchsen würde beim THW in der ersten Sieben spielen“, hatte Kretzschmar gemeint, „und die zweite Sieben beim THW ist kaum schlechter“.

Dabei hatte der Verlust des Titels im Vorjahr das Selbstverständnis des THW Kiel als Branchenführer angesichts des großen Rückstandes auf den HSV ernsthaft in Frage gestellt. Als das Team im Juli auf La Réunion im fernen Indischen Ozean zum Trainingsauftakt zusammenkam, der Heimat von Daniel Narcisse, verarbeiteten Profis und Trainer zunächst die Fehler aus der Vorsaison. Und dann schworen sie sich, 11000 Kilometer von Kiel entfernt, auf die neue Spielzeit ein. Dass es eine Saison der Rekorde wurde, das ahnte freilich niemand.

Die Siegesserie war auch Folge einer Eigendynamik: Jeder Sieg brachte mehr Selbstvertrauen. „Wir haben so viele Spiele in den letzten zehn Minuten gewonnen, das gibt irgendwann einfache extreme Sicherheit“, sagt Gislason. Die formidablen Vorstellungen seines Teams haben sogar den Isländer zu Lobeshymnen provoziert. „Noch nie habe ich eine bessere Mannschaft trainiert“, sagte er schon früh in der Saison.

Vielleicht wird man eines Tages über den THW dieser Spielzeit als die beste Klubmannschaft aller Zeiten sprechen. Von diesem Monster-Rückraum, von der sogenannten „zweiten Reihe“, von der viele Klubs nur träumen können, vom „Geist von La Réunion“, der die Grundlage schuf für eine historische Saison.

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