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Wo geht's hier nach Russland? Gian Piero Ventura steht mit Italien unter Druck.

© Daniel Dal Zennaro/ANSA/dpa

Play-offs zur WM 2018: Italien und Gian Piero Ventura droht die Apokalypse

Der umstrittene Nationaltrainer Gian Piero Ventura will gegen Schweden das erste Aus Italiens in der WM-Qualifikation seit 1958 verhindern.

Als Italien zum einzigen Mal eine WM-Endrunde verpasste, war Francesco Graziani keine sechs Jahre alt. Seine Erinnerungen an die 1:2-Niederlage gegen Nordirland in der Qualifikation für das Turnier 1958 in Schweden dürften daher eher dunkel sein. Damit sich solch eine Schmach für den stolzen italienischen Fußball aber nicht wiederholt, zieht der Weltmeister von 1982 alle Register. „Wir Jungs von 82 organisieren uns gerade mit dem Fußballverband, um zu den Play-offs ins Stadion zu kommen und Glück zu bringen“, sagte Graziani im italienischen „Radio 24“.

Dass ehemalige Nationalspieler oder auch mal eine ganze Mannschaft zu einem Länderspiel eingeladen werden, ist keine Besonderheit – und doch ist das Bemühen von vermeintlichen Glücksbringern kurz vor dem Hinspiel in der WM-Qualifikation gegen Schweden in Solna am Freitag (20.45 Uhr, Livestream bei Dazn; Rückspiel am Montag in Mailand) bezeichnend für den aktuellen Gemütszustand im italienischen Fußball. Das alte Selbstverständnis ist den Azzurri abhandengekommen. Vor den zwei entscheidenden Spielen auf dem Weg zur Weltmeisterschaft im kommenden Sommer in Russland herrscht große Anspannung im Land des viermaligen Titelträgers.

Verbandspräsident Carlo Tavecchio bezeichnete ein mögliches Scheitern als „Apokalypse“ und aufgrund der deutlich größeren individuellen Klasse seiner Spieler ist Italien immer noch Favorit. Eine Sensation wäre es aber nicht, sollten sich die Schweden um den Leipziger Emil Forsberg am Ende durchsetzen. Gian Piero Ventura äußerte sich nach der Auslosung zwar betont selbstbewusst und sagte: „Niemand hat oder wird die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Italien nicht zur WM fährt.“ Das sehen Fans und Medien, bei denen der Nationaltrainer als Hauptverantwortlicher der schlechten Verfassung der Azzurri gilt, aber durchaus anders.

Viele Fans wünschen sich Conte oder Ancelotti

Schon bei seiner Vorstellung als Nationaltrainer nach der EM 2016 verursachte die Wahl Unverständnis. Warum Ventura? Ein Trainer, der trotz seiner mittlerweile 69 Jahre noch keinen nennenswerten Titel gewonnen hat und lediglich bei kleinen bis Mittelklasseklubs gearbeitet hat – zumal ohne klare taktische Handschrift und Ausstrahlung. Nach 14 Monaten sind die Fragezeichen noch größer geworden. Viele Fans wünschen sich eine Rückkehr von Antonio Conte oder den kürzlich beim FC Bayern entlassenen Carlo Ancelotti als Nationaltrainer. Fürsprecher Venturas gibt es außerhalb des Verbandes, der seinen Vertrag im August bis 2020 verlängerte, kaum.

Auch wenn sich Italien in der Qualifikation traditionell schwer tut und nur selten glänzt, haben die letzten Spiele den Calcio in Alarmstimmung versetzt. Gegen Spanien hatte das Team Anfang September beim 0:3 nicht den Hauch einer Chance, was vor allem an Venturas Spielsystem lag. Der Trainer hielt trotz aller Kritik an einem 4-2-4 fest, was die italienische Sportpresse fast einheitlich als „taktischen Selbstmord“ bezeichnete. Im Zentrum waren Daniele De Rossi und Marco Verratti stets in Unterzahl, die vier Offensivkräfte hingen in der Luft und die Spanier ließen den Ball problemlos laufen.

Während es Venturas Vorgänger Antonio Conte bei der Europameisterschaft in Frankreich noch gelungen war, eine individuell nur durchschnittlich besetzte Mannschaft vorbei an Belgien und Spanien bis ins Viertelfinale zu führen, wo Italien dem deutschen Team erst im Elfmeterschießen unterlag, treten die vielen Defizite nun an die Oberfläche. Das taktische Gespür eines Conte, die Schwächen des Gegners zu erkennen und das eigene Team mit klaren Spielzügen und großer Motivation darauf einzustellen, fehlt Ventura. Die biederen und ideenlosen Auftritte beim 1:1 gegen Mazedonien und beim 1:0 in Albanien im Oktober passten zu einer Qualifikation, die ergebnistechnisch mit sieben Siegen aus zehn Spielen gar nicht so schlecht war, in der Italien spielerisch aber nie überzeugen konnte und auch den nötigen Umbruch nur unzureichend eingeleitet hat.

"Es ist unwichtig, wie viele Weltmeisterschaften sie gewonnen haben"

So hält sich auch der Respekt beim Gegner in Grenzen. „Ich habe keine Angst vor Italien. Es ist unwichtig, wie viele Weltmeisterschaften sie gewonnen haben“, sagte Schwedens Trainer Jan Andersson. „Das was zählt, sind die heutigen Spieler und die aktuelle Form.“ Und die sprechen nicht unbedingt für Italien. Während vor einigen Jahren noch zahlreiche Weltklassespieler im Kader standen und sich 2006 für Marcello Lippi die Frage stellte, ob er lieber Francesco Totti, Alessandro Del Piero oder doch Filippo Inzaghi neben Luca Toni aufstellen soll, sind die ganz großen Namen mittlerweile selten geworden.

Defensiv ist die Mannschaft mit Torwartlegende Gianluigi Buffon, dem im Sommer von Juventus Turin zum AC Mailand gewechselten Leonardo Bonucci sowie Giorgio Chiellini exzellent besetzt, wenn auch deutlich in die Jahre gekommen. Die Probleme liegen davor. Im Mittelfeld gelingt es Verratti aufgrund der unausgewogenen taktischen Ausrichtung bisher nicht, seine starken Leistungen aus Paris zu bestätigen. Und in der offensiven Viererkette stehen sich die zwei Mittelstürmer, meist der ehemalige Dortmunder Ciro Immobile und Andrea Belotti, sowie die Außen Lorenzo Insigne und Antonio Candreva oft auf den Füßen.

Mittlerweile haben sich auch Trainerlegende Arrigo Sacchi und die früheren Nationalspieler Del Piero und Giuseppe Bergomi deutlich gegen das umstrittene 4-2-4 ausgesprochen. Und Ventura scheint tatsächlich über eine Systemumstellung nachzudenken. Bergomi wird vermutlich live miterleben können, ob der Nationaltrainer ein Einsehen hat und die „Apokalypse“ sowie seine im Falle eines Scheiterns drohende Entlassung abwenden kann. Denn als Weltmeister von 1982 müsste er als Glücksbringer im Stadion sein.

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