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Ganz entspannt: Joachim Löw.

© dpa

Joachim Löw im Interview: "Ich empfinde keinen Stress"

Bundestrainer Joachim Löw spricht mit dem Tagesspiegel über seinen Tagesablauf bei einem großen Turnier, Stürmer Mario Gomez, die Taktik gegen Spanien und ein gutes Buch.

Herr Löw, was haben Sie eigentlich heute nach dem Aufstehen getan?

Zuerst habe ich mit Frank Wormuth telefoniert, weil er ein Kenner der Gruppe A ist und sie für uns beobachtet.

Aus dieser Gruppe käme der nächste Gegner im Viertelfinale…

Ja, aber so weit sind wir noch nicht. Natürlich müssen wir planen. Danach hatten wir eine Besprechung mit den Scouts, da ging es um die Einteilungen für die Spielbeobachtungen. Und wenn Sie es ganz genau wissen wollen: Um 7.30 Uhr habe ich trainiert.

Deutschland-Holland, die Reaktionen nach dem Spiel:

Sie sich?

Ja, ein bisschen im Fitnessraum. Erst auf dem Laufband, auf dem Fahrrad und dann ein wenig Gymnastik. Das mache ich regelmäßig.

Stellen Sie sich den Wecker?

Nein, ich bin ein Frühaufsteher.

Das klingt, als ginge es hier gleich morgens los mit Fußball. Haben Sie keine Freizeit?

Freizeit im eigentlichen Sinn gibt es hier eigentlich nicht. Abends, bevor ich ins Bett gehe, lese ich ein bisschen, um abschalten zu können.

Die deutschen Spieler nach dem Holland-Sieg in der Einzelkritik:

Und, wie viele Seiten haben Sie geschafft?

Von 800 Seiten habe ich 300 bis 400 Seiten gelesen. Tagsüber komme ich nicht dazu, aber vor dem Schlafen.

Was bedeutet Lebensqualität während eines großen Turniers?

Und wir haben gedacht, Sie kämen durch das Lesen besser in den Schlaf?

Komme ich doch. Ich lese an diesem Buch schon seit drei Wochen.

Sie selbst haben mal gesagt, dass Ihre Lebensqualität während eines Turniers auf ein Minimum sinkt. Können Sie das genauer erklären?

Lebensqualität bedeutet ja, sich mit der Familie, mit Freunden zu treffen, Essen zu gehen oder ins Kino zu gehen, selbst Fußball zu spielen. Diese Dinge sind momentan weit weg. Hier geht es den ganzen Tag um Fußball. Das ist eine andere Art von Lebensqualität.

Sie wirken trotz des Stresses, als würden Sie in sich ruhen, ja fast schon lässig. Können Sie Ihren Körper so programmieren, oder findet er inzwischen selbst seinen Rhythmus?

Bei einem Turnier brauche ich einen geregelten Rhythmus. Ich gehe nicht zu spät ins Bett. Ich habe klare Abläufe, mehr als das zu Hause der Fall ist. Aber wenn Sie von Stress sprechen: Ich empfinde beim besten Willen keinen Stress. Warum das so ist, weiß ich nicht.

Vielleicht weil Ihnen Stress gefällt?

Vielleicht verdränge ich ihn auch nur. Ich empfinde aber keinen Druck. Mag sein, dass alle anderen Leute von Druck sprechen, aber mir macht es Spaß. Ich freue mich auf Wettkämpfe gegen Holland oder Portugal. Das macht mir mehr Spaß, als, bei allem Respekt vor diesen Gegnern, gegen die Schweiz, Israel oder Liechtenstein zu spielen.

Sie lieben den Wettkampf auf höchstem Niveau?

Ich bin schon zu lange dabei. 2004 war für mich klasse. Wir hatten in Österreich ein Freundschaftsspiel und eines in Teheran. Das war Hochspannung. Aber jetzt bin ich acht Jahre dabei. Das Größte ist für mich ein Turnier. Sich mit den Besten zu messen. Da freue ich mich drauf.

Aber wenn Sie tatsächlich keinen Stress empfinden, warum sind Sie dann nach den Turnieren so erschöpft?

Das ist der emotionale Abfall. Die Emotionen sind hier natürlich groß, manchmal auch nicht steuerbar. Ich ärgere mich während eines Spiels, ich freue mich, ich mache Dinge, von denen ich hinterher gar nicht mehr so richtig weiß, was ich da gemacht habe. Es passieren ja unheimlich viele Dinge: Wir gewinnen gegen Holland, aber am nächsten Tag ist schon wieder Dänemark das Thema und das Turnier geht weiter. Es gibt Highlights oder vielleicht eine Riesenenttäuschung. Und dann fallen die Emotionen in sich zusammen. Nach acht Wochen Konzentration und einer großen Anstrengung.

Podolski vor seinem 100. Länderspiel. Wird er endlich überzeugen?

Welche Dinge meinen Sie, von denen Sie hinterher nichts mehr wissen?

Auf der Bank passieren beispielsweise Dinge, die spontan kommen. Oder auch im Training. Da bin ich manchmal gegenüber Spielern sicher ungerecht in meiner Ausdrucksweise. Da sage ich hinterher: Das muss man ein bisschen anders einordnen.

In Einzelgesprächen? Und wenn ja, wie laufen die genau ab?

Im Moment laufen Einzelgespräche relativ spontan ab. Es finden eigentlich keine, zumindest keine langen Einzelgespräche statt. Wenn wir sprechen, sind es sportliche Analysen mit einzelnen Spielern: Was ist passiert im Spiel gegen Portugal? Wie spielt der Gegenspieler? Wenn ich aber das Gefühl habe, der eine oder andere Spieler ist in einem Zustand der Unzufriedenheit oder hat ein anderes Problem, dann spreche ich ihn natürlich an. Oder es gibt auch Spieler, die mal zu mir kommen, wenn etwas ist. Geplante Einzelgespräche gibt es bei einem Turnier eigentlich nicht.

Nicht jeder hat soviel Ahnung wie der Bundestrainer. Unser Leitfaden für Fußballunkundige:

War bei Mario Gomez nach dem Portugalspiel eines nötig?

Mit ihm habe ich am Morgen des Spiels gegen Holland noch einmal gesprochen und ihm gesagt: Meine Beurteilung ist das Allerwichtigste. Was andere Leute sagen, musst du ausblenden. Es wird immer wieder Positives geben, es wird kritische Stimmen geben. Das Wichtigste ist meine Beurteilung. Für mich hat seine Leistung gegen Portugal gestimmt. Er hat das entscheidende Tor gemacht und gut gearbeitet. Damit hatte er mein Vertrauen – und Schluss.

Lukas Podolski steht am Sonntag vor seinem 100. Spiel. Bislang hat er nicht überzeugt. Sollten Sie sich ihn nicht mal greifen?

Offensiv kann noch etwas mehr kommen. In den ersten beiden Spielen hat er aber gut nach hinten gearbeitet. Das war eine wichtige taktische Vorgabe für ihn, denn ich hatte ihm aufgetragen, dass er Philipp Lahm mit Nani und Robben nicht alleine lassen darf, dass er nach hinten hoch aufmerksam und wachsam sein muss. Sonst hätten wir Schwierigkeiten bekommen. Denn diese Spieler sind mit das Beste, was es auf den Außenpositionen gibt. Das Allerwichtigste für ihn war daher, dass er diszipliniert spielt. Das hat er gut gemacht.

Alternativen hätten Sie ja. Ihr Kader gilt als der beste, den Deutschland je hatte. Ist Ihre Arbeit damit nicht einfacher geworden?

Wir haben diese Mannschaft so entwickelt. Und wir haben sie nach unseren Vorstellungen in den vergangenen Jahren so geformt. Wir haben jetzt sicher besser ausgebildete Spieler. Dadurch sind manche Dinge schneller umsetzbar, ganz klar. 2006 oder 2007 hatten wir weniger Alternativen. Und weniger Spieler, die diesen modernen, schnellen, technischen, intensiven Fußball ausführen können. Wir hätten vielleicht länger gebraucht. Aber auch jetzt ist es nicht einfach, für jedes Spiel die richtige Auswahl zu treffen. Wir sind auf einem Niveau angekommen, wo wir uns trotzdem immer wieder überlegen müssen: Was können wir weiterentwickeln? Wie können wir besser werden? Das ist, auf der einen Art, genauso schwierig wie vor einigen Jahren.

Heute geht es mehr um die Defensive

Uns ist aufgefallen, dass Ihre Spieler heute sehr viel mehr über Defensive sprechen. Vor einem Jahr drehte sich alles um ein möglichst schnelles Spiel, um Offensive, um Attraktivität. Liegt dem ein bewusstes Umdenken zu Grunde?

Ich denke, dass wir schon 2010 stark in der Defensive waren, nur ist das vielleicht nicht so durchgedrungen. In der öffentlichen Wahrnehmung standen hier vielleicht die vielen gelungenen offensiven Aktionen im Vordergrund, die man einer deutschen Mannschaft so vielleicht gar nicht zugetraut hat. Aber es gab auch schon bei der WM jene Phasen, wo wir zwar gut verteidigt haben, aber nicht so sehr als Mannschaft.

Ihnen geht es jetzt also um eine neue Komplexität in der Defensive?

2010 haben wir begonnen, es richtig gut zu machen. Es ging uns darum, über diese Art von Defensive schnell in die Offensive zu kommen. Aber vor zwei Jahren waren auch nicht alle Spiele wie die bei der WM gegen England und Argentinien, wenn Sie sich erinnern. Da gab es auch andere Spiele.

Sie meinen Spiele, in denen es in der Offensive hakte, weil es in der Defensive nicht stimmte?

Das Spiel der anderen gegen uns hat sich entwickelt. In den beiden Jahren seit der WM sind wir auf Mannschaften getroffen, die sich komplett in die eigene Hälfte zurückgezogen haben. Niemand spielt mehr so gegen uns wie England und Argentinien, die uns zu viele Räume gaben. Beide Mannschaften ließen einige ihrer Superstars im Spiel gegen uns einfach vorn stehen. Wie Messi, Gonzalo Higuain und wer da sonst alles spielte. Das macht ja heute keiner mehr.

Und Sie reagieren mit Defensive darauf?

Alle Gegner kontern inzwischen ganz gut. Von daher ergibt sich für uns die Wichtigkeit, gut nach hinten zu arbeiten, also gut und stabil defensiv zu stehen, damit wir daraus unser Vorwärtsspiel entwickeln können.

Jetzt bei der EM spielte Ihr Team gegen Portugal und Holland, die ihre Stärken ganz klar in der Offensive haben.

Genau. Das bedeutet aber auch, dass sie ihre Konter noch gefährlicher vortragen. Bei diesem Turnier geht es für uns einfach darum, die richtige Ausgewogenheit hinzubekommen. Denken Sie an Brasilien.

Welches Buch liest Löw denn jetzt eigentlich?

Das Spiel im vorigen August in Stuttgart …

Da habe ich gesagt: Spielt drauflos. Dann macht ein 4:2 oder 4:3, ja, ist schön anzusehen. Das hilft uns auch weiter als Beweis unserer Offensivkraft. Aber solche Spiele verträgt man nicht immer. Man muss schon gucken, dass wir die richtige Balance finden. Und dazu gehört eben auch beides. Und genau das ist ja das Schwierige – beides!

Das erfolgreiche Spiel von Welt- und Europameister Spanien gilt weitestgehend als entschlüsselt. Haben Sie den Schlüssel?

Es gab keine Mannschaft, die defensiv so stark gespielt hat gegen Spanien wie wir. Sowohl im EM-Finale 2008 als auch im WM-Halbfinale von 2010 hatten die Spanier nur höchstens eine oder zwei Chancen. Das gibt es gegen Spanien normalerweise nicht. Spanien hat immer sieben oder acht große Chancen. Einzig, wir haben gegen sie nach vorn nicht so gut gespielt, das ist uns nicht gelungen. Die Spanier sind nur dann zu besiegen, wenn man defensiv gegen sie arbeitet, wie wir es schon getan haben, aber man muss auch nach vorn so gut spielen können wie sie. Generell gilt: Eine gute Offensive basiert auf einer guten Defensive.

Sie treffen jetzt auf Dänemark. Werden Sie Veränderungen in der Mannschaft vornehmen?

Wir wollen gewinnen. Selbst wenn wir bereits für das Viertelfinale qualifiziert wären, würde ich jetzt nicht sieben oder acht Spieler tauschen. Ich würde mir das gut überlegen, auch rein gefühlsmäßig: Welchem Spieler täte eine Pause gut? Ein anderer Spieler braucht vielleicht eher einen klaren Rhythmus.

Herr Löw, welches Buch lesen Sie eigentlich?

Unternehmen Brandenburg, ein Thriller.

Das Gespräch führte Michael Rosentritt.

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