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Sport: Jung, schön, erfolgreich

Lucien Favre baut weiter an seiner Hertha der Zukunft – mit großen Risiken

Berlin - In den finalen Wirren der Transferperiode blieb für die kleinen Details offenbar keine Zeit mehr. Wer gestern bis zum Abend die Internetseite von Hertha BSC anklickte, wurde dort immer noch von Gilberto im blauweißen Trikot der Berliner begrüßt. Vorbei. Manchmal geht es ganz schnell. Im Sommer noch wurde Gilberto zur zentralen Figur beim Berliner Fußball-Bundesligisten befördert – ein halbes Jahr später spielt er für Tottenham Hotspur, und die Berliner scheinen seinen Weggang nicht als allzu großen Verlust zu betrachten. Dieter Hoeneß widersprach zwar der Einschätzung, dass er den Verkauf leichten Herzens abgewickelt habe. Gilberto sei „ein großer Fußballer und ein fantastischer Mensch“, sagt Herthas Manager, nach reiflicher Abwägung aber kam Hoeneß zu dem Schluss, dass man nicht nein sagen könne, wenn man für einen fast 32-Jährigen noch mehr als zwei Millionen Euro erlöst, und das ein halbes Jahr vor Ablauf seines Vertrages.

Manche sehen trotzdem eher das Risiko. Unmittelbar vor dem Rückrundenstart gegen Eintracht Frankfurt hat Hertha erneut einen erfahrenen Spieler verloren. Der Umbruch, den Hoeneß im Auftrag von Trainer Lucien Favre geradezu manisch vorantreibt, hat inzwischen historische Dimensionen angenommen. Nie zuvor hat Hertha seinen Kader derart umfassend verändert wie in dieser Saison: 16 Spieler haben den Verein seit dem Sommer verlassen, 13 sind neu gekommen, davon fünf im Winter. Als letzten Neuzugang haben die Berliner für 200 000 Euro Leihgebühr den Tschechen Rudolf Skacel vom englischen Zweitligisten Southampton verpflichtet. Er soll Gilberto im linken Mittelfeld ersetzen. „Wir hatten nicht vor, so viele Spieler zu holen“, sagt Hoeneß. „Das hat sich so ergeben.“

Herthas Manager ist jedenfalls „sehr zuversichtlich, dass wir dem Trainer mehr Möglichkeiten gegeben haben, seine Ideen umzusetzen“. Die Transfers sind ein weiterer Vertrauensbeweis für Favre und seine Arbeit. Er hat ausschließlich Spieler bekommen, die er für seine Art von Fußball braucht: Sie sind beidfüßig, technisch gut – und vor allem jung, damit Favre sie noch nach seinen Vorstellungen formen kann. Raffael ist 22 Jahre alt, Gojko Kacar 21, Waleri Domowtschiski 21 und Bryan Arguez 19. Nur Skacel, eher ein Notkauf und zunächst bis zum Saisonende ausgeliehen, passt mit 28 nicht in dieses Beuteschema. „Wir behalten unsere Linie bei“, sagt Favre. „Wir haben die Mannschaft verjüngt, aber mit viel Qualität.“

Skeptiker werden trotzdem sagen: Der Verein hat sich dem Trainer bedingungslos ausgeliefert. Immerhin tut Hertha das aus voller Überzeugung. Und aus gutem Grund. Favre kann das: eine Mannschaft bauen, die schönen und erfolgreichen Fußball spielt. In Berlin wird man das auch noch merken – ab dem Sommer. Bis dahin muss sich die Mannschaft irgendwie durchwursteln. Nicht mehr. Hoeneß sagt, sie nähmen es in Kauf, „dass wir uns in diesem Jahr im Mittelfeld aufhalten“. Nur eins darf nicht passieren: dass Hertha in der Rückrunde in Abstiegsgefahr gerät. Das könnte das ganze Bauprojekt Hertha Zwanzigzehn zum Einsturz bringen.

Auszuschließen ist das nicht.

Hertha steht vor der vielleicht wichtigsten Rückrunde der Vereinsgeschichte. Bei fünf Punkten Vorsprung auf die Abstiegszone besteht für die Berliner zwar keine akute Gefahr wie vor vier Jahren, als Hertha von Platz 17 in die Rückrunde startete. Anders als heute wusste die Mannschaft damals aber, was sie erwartete: der Kampf um die fußballerische Existenz. Einer solchen Situation wäre sie diesmal wohl nicht gewachsen. Für die besonderen Anforderungen des Abstiegskampfes ist der Kader eher zu jung, und auch Favre taugt nur bedingt für ein solches Szenario. Er ist ein Trainer, der kompromisslos konzeptionell arbeitet, kein Retter, der von seiner Linie abgeht und situativ reagiert.

„Es wäre wichtig, dass wir einen guten Start haben und eine sichere Position im Mittelfeld einnehmen“, sagt Hoeneß. „Dann können wir in Ruhe weiter planen.“ Aber was, wenn nicht? Die Mannschaft ist nicht eingespielt. Domowtschiski und Skacel sind erst in dieser Woche nach Berlin gekommen, sie stehen heute nicht im Kader; Kacar hat fast die komplette Vorbereitung verpasst, nur Raffael ist körperlich in der Lage, sofort zu helfen. Zudem fehlen aus der Viererkette Arne Friedrich (Achillessehnenbeschwerden) und Steve von Bergen (Oberschenkelprobleme). Trotzdem sagt Favre: „Ich freue mich schon auf die Rückrunde.“ Für ihn wird es wahrscheinlich die leichteste und zugleich die schwierigste Rückrunde seiner Trainerkarriere sein. Er muss nur nicht absteigen.

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