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Kommentar: Schiedsrichter: Zu wenig Fuß im Gehirn

Der Schiedsrichter ist fehlbar, gut so. Markus Hesselmann lobt die subversive Kraft des Fußballs und spricht sich gegen technische Hilfsmittel wie den Videobeweis oder den Chip im Ball aus.

Von Markus Hesselmann

Der Fußball lebt von seiner Schönheit. Dem genialen Pass in den freien Raum, dem unhaltbaren Schuss aus der Distanz, dem unwiderstehlichen Dribbling. Aber der Fußball lebt auch von seinem anarchischen, subversiven Potenzial. Vom Favoritensturz durch den einen, genialen Spielzug des Underdogs. Von den Aussetzern der Superstars. Von einem entscheidenden Tor in der Nachspielzeit nach 90 Minuten grausigen Standfußballs. Und eben auch vom menschlichen Drama der Fehlentscheidung durch die oberste Autorität auf dem Platz.

Um diese Autorität und deren Urteilskraft zu stützen, sind nach dem umstrittenen Ausgang des Halbfinalspiels der Champions League zwischen Chelsea und Barcelona nun wieder technische Hilfsmittel wie der Videobeweis oder ein Sensor-Chip im Ball im Gespräch. Doch der Fußball ist gerade deshalb so groß, weil er so anfällig ist für Fehler. Es gibt kaum eine andere Sportart, in der sich selbst die größten Helden in dauernder Gefahr befinden, vom einen auf den anderen Moment wie Idioten dazustehen. Selbst Beckenbauer schoss Eigentore, selbst Maradona vergab Elfmeter.

Warum ist diese Spiel auch auf hohem Niveau oft so slapstickhaft? „Weil wir es nicht können, von Natur aus nicht“, lässt Thomas Brussig seinen Fußballtrainer im Drama „Leben bis Männer“ monologisieren. „Wir haben einfach zu wenig Fuß im Gehirn.“ Für so was wie Fußball sei der Mensch einfach nicht geschaffen. „Ein Fußballer ist zum Scheitern verurteilt.“ Genau darin liegt ein wichtiger Teil der Faszination – wenn auch in diesen Tagen kaum ein Trost für Michael Ballack. Der Philosoph Martin Seel nannte populären Sport die „Zelebration des Unvermögens“. Fußball wäre dann das Hochamt des Unvermögens. Den Schiedsrichter hier herauszulösen und ihm durch technische Mittel zu einer Quasi-Unfehlbarkeit zu verhelfen, nähme dem Spiel viel von seiner subversiven Kraft, aus der die Fußballkultur schöpft.

Große Verschwörungstheorien

Zur Kultur dieser einzigartigen Sportart, zu den Debatten der Fans, zu ihren Gesängen im Stadion, gehören auch die großen, meist antiautoritären Verschwörungstheorien. Wie jetzt wieder das für sich genommen ja schlüssige Argument, der europäische Fußballverband hätte ein weiteres rein englisches Finale, noch dazu mit denselben Protagonisten wie im Vorjahr, nicht gern gesehen. Aber hat er deshalb gleich dem armen Tom Henning Övrebö das Pfeifen von Elfmetern für den FC Chelsea verboten? Eher unwahrscheinlich, dass die Herrschaften von der Uefa so plump sind. Aber solche Debatten beweisen immer aufs Neue, wie herzergreifend wichtig der Fußball auch in Zeiten seines drohenden kommerziellen Overkills immer noch ist.

Erst wenn sich eine solche Theorie mal wieder als wahr erweist, wie beim Bundesligaskandal in den Siebzigern oder im Fall Robert Hoyzer, ist der Kern des Fußballs tatsächlich getroffen. Das offene Ende, weshalb die Leute nicht nur Sepp Herberger zufolge immer wieder hingehen, wäre nicht mehr offen. Die kleine, aber hinreichende Hoffnung, dass meine Mannschaft auch als Außenseiter den Favoriten gerade heute schlägt, wäre dahin. Und das Unvermögen stünde plötzlich unter dem Verdacht des Mutwillens.

Unter der Manipulation geht der Fußball zu Grunde. Schlecht aufgelegte Schiedsrichter und deren Fehlentscheidungen übersteht das schöne Spiel allemal. Der Fußball, wie wir ihn kennen und lieben, braucht sie sogar.

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