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Viel Pflicht, wenig Kür. Tanja Kolbe und Stefano Caruso in Sheffield. Foto: dpa

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Sport: Kreativität im Korsett

Weil die Regeln im Eistanz immer starrer werden, leidet die Attraktivität der Sportart.

Berlin - Sie knieten auf dem Eis, ihre Körper aneinander geschmiegt, dann lösten sie sich langsam, die Arme ausgebreitet wie Vögel, die sich im Wind treiben lassen. Ein paar Sekunden lang erinnerten Jayne Torvill und Christopher Dean an Vögel beim Balztanz. Dann sank Torvill langsam in seine Arme, die Beine ausgestreckt, und mit geschmeidigen Bewegungen hob er sie langsam hoch und setzte sie sanft auf dem Eis ab. Danach stand auch er auf, und das olympische Märchen begann.

Es war der Auftakt zu einem der schönsten Momente der Olympischen Winterspiele von 1984: der Eistanz-Kür des englischen Paars Torvill/Dean. Die Musik von Ravels „Bolero“. Die Preisrichter veredelten den Auftritt zum Gesamtkunstwerk: neunmal die Traumnote 6,0 für den künstlerischen Wert. Das gab es noch nie. „So etwas wie den Bolero wird es nie mehr geben“, seufzt Martin Skotnicky, der Eistanz-Bundestrainer. Er meint damit nicht das Können der Eistänzer bei der Eiskunstlauf-EM in Sheffield. Er meint den künstlerischen Niedergang des Eistanzes. „Die Kreativität ist gestorben“, sagt Skotnicky.

Skotnicky hatte mit den Geschwistern Isabelle und Paul Duchesnay, den Weltmeistern von 1991 aus Kanada, den berühmten Dschungeltanz ausgearbeitet, das zweite legendäre Highlight des Eistanzes. Aber jetzt? Jetzt sagt Skotnicky in Sheffield: „Eistanz hat nicht mehr die Attraktivität von früher.“ Eistanz, wie er jetzt auch bei der EM gezeigt wird, ist gepresst in starre Regeln, die jede Abweichung von den Vorgaben bestraft. Eine Hebung darf nicht länger als sechs Sekunden dauern, der Mann darf die Frau nicht länger als zwei Takte übers Eis führen, ohne dass ein Element präsentiert wird. Das Paar muss seine Kür abarbeiten. „Man hat gerade mal Zeit, alle Pflichtelemente unterzubringen“, sagt Reinhard Ketterer, der Leitende Landestrainer von Berlin. Und Tanja Kolbe, mit Stefano Caruso Zweite der Deutschen Meisterschaft, beklagte sich: „Es wird immer schwieriger, ein bisschen zu tanzen, weil man so auf die Regeln achten muss.“ Gestern (bei Redaktionsschluss noch nicht beendet) bemühten sich Beide im Kurztanz um Punkte. Ketterer nennt das Ganze: „Die Pflicht zur Kür.“

Früher gab es Freiraum, das Regelwerk hatte noch nicht die Auswirkungen eines sportlichen Korsetts. Doch jetzt sehen alle Tänze fast gleich aus. „Ich habe immer den gleichen Spielraum, egal, welche Musik ich wähle“, sagt Ketterer. Der Spielraum ist denkbar gering. So ist das vom Weltverband gewünscht. Die starren Regeln sind die Antwort auf den Noten-Skandal im Paarlaufwettbewerb bei den Olympischen Spielen 2002. Damals wurden Medaillen verschoben, das ganze System war korrupt. Die Höchstnote 6,0 wurde abgeschafft, jetzt gibt es für Elemente und die Choreographie Punkte. Am Ende wird zusammen gezählt. Je mehr reglementiert wird, umso weniger Raum gibt es für Manipulationen. „Die Notengebung ist gerechter geworden“, gibt Ketterer zu, „aber die Kreativität leidet darunter.“ Und weil die Regeln immer starrer wurden, verlor der Eistanz seine künstlerische Note. Die einzelne Kür mag technisch anspruchsvoll und choreographisch interessant sein, aber wenn die Zuschauer ein Dutzend Mal quasi das Gleiche sehen, wird es langweilig. Die Kanadierin Tessa Virtue, 2010 mit Scott Moir Olympiasiegerin, stöhnte im Fachmagazin „Pirouette“: „Da gibt es so vieles, was wir machen wollen, aber wir können es nicht, wir stecken wegen der Regeln in dieser kleinen Box fest.“

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