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Sport: „Lass die Finger von Owomoyela“

Die Stimmung in den Stadien lebt von den Gesängen der Fans in der Kurve. Die sind mal witzig, mal unter der Gürtellinie. Und mal sind sie einfach nur unglaublich laut

Eben noch war Martin Stein einer unter vielen Besuchern im Frankfurter Stadion. Dann aber, kurz nach Anpfiff, ist er auf die Betonmauer des Unterrangs geklettert. Hunderte junger Fans blicken nun nicht mehr aufs Spielfeld, sondern hinauf zu Martin Stein, der ein Megafon in der Hand hält und kehlig den Countdown hinunterzählt. Vier-drei-zwo-eins, und es kann losgehen. Die Menge ballt die Fäuste und schreit, jede Silbe betonend, ihr Glaubensbekenntnis ins Rund: „Ein-tracht! Ein-tracht!“

Die Bilder gleichen sich. Wie in Frankfurt formieren sich an jedem Wochenende auch in vielen anderen deutschen Stadien tausende junger Anhänger zu Freiluftchören. Gesungen wird, was die Kehle hergibt, deutsches Liedgut, Schlager und aktuelle Pophits, nur die Texte unterscheiden sich, nun ja, geringfügig von den Originalen. Auf die Melodie des Beatles-Klassikers „Yellow Submarine“ wird angekündigt, den Bayern die Lederhosen auszuziehen, anstelle des schönen Westerwaldes wird der ebenso schöne „S 04“ besungen, und Bielefelder Fans dichten gar die Urhymne der Fußballfans „You’ll never walk alone“ um in den merkwürdigen Reim: „Du gehst niemals allein – mit einem Bier in der Hand“.

Was wiederum beinahe den Straftatbestand der Denkmalschändung erfüllt. Denn mit „You’ll never walk alone“ fing alles an, damals im Liverpool des Jahres 1963.

Im Stadion an der Anfield Road gehörte die Musical-Schnulze zum festen Repertoire des Stadionsprechers. Als einmal die Lautsprecher ausfielen, übernahmen die Fans auf der Stehterrasse „Kop“ die Initiative. Statt bloß zur eingespielten Musik mitzusingen, intonierten sie allein den Song, der so hingebungsvoll von der Treue in der Not erzählt.

Die Bilder der enthusiastisch singenden Liverpooler Fans machten Eindruck. Auf die Fans in den anderen englischen Stadien, mit Verspätung auch in Deutschland, wo erst Anfang der Siebziger mehr zu hören war als das eher geröhrte denn gesungene „Deutschland vor, noch ein Tor!“. Nun sangen auch im Dortmunder Westfalenstadion und auf dem Bieberer Berg in Offenbach die Fans.

Die Choräle waren dabei mehr als nur ein launiger Zeitvertreib, sie begründeten das bis heute gültige Selbstverständnis der Fans als 12. Mann, nun waren die Anhänger nicht mehr Zuschauer, sondern Akteure auf der Bühne Stadion.

Die Fanblöcke eigneten sich alsbald ein erstaunliches Repertoire an. Neben vereinsspezifischen Huldigungen etablierte sich dabei vor allem der Schmähgesang. „Was ist grün und stinkt nach Fisch? – Werder Bremen“, sang man zu Ehren des Nordklubs. „Arbeitslos und kein Geld im Portemonnaie – das ist der RWE“, verspotteten Schalker gerne die Essener, die gaben mit gleicher Münze zurück, „Arbeitslos und eine Flasche Bier“, man ahnt schon, es reimt sich auf Schalke 04.

Eine Tradition, die sich bis heute gehalten hat. Anhänger aus Kleinstädten werden auch heute noch bevorzugt mit dem fröhlichen Gesang „Hurra, das ganze Dorf ist da!“ begrüßt und aufopfernde Bemühungen um Stimmung anerkannt: „Für ein Heimspiel seid ihr ganz schön laut!“

Besonders wirkungsvoll sind Fangesänge jedoch immer dann, wenn sie auf Geschehnisse auf dem Rasen reagieren. Als 1998 Stefan Effenbergs üppiges Gehalt bei Borussia Mönchengladbach bekannt wurde, sang beim Gastspiel auf der Bielefelder Alm das ganze Stadion hämisch: „Fünf Millionen, keiner weiß warum.“ Effenberg ließ sich schließlich entnervt auswechseln. Als Jürgen Klinsmann den Dortmunder Christian Wörns aus der Nationalmannschaft warf, schoss der Verteidiger im nächsten Spiel prompt ein Tor. Die Dortmunder Südtribüne fragte postwendend: „Jürgen Klinsmann, hast du das geseh’n?“ Und als Werder Bremen die Verpflichtung des Bielefelders Owomoyela plante, dichteten die Ostwestfalen ein Lied der Popgruppe „Fettes Brot“ um: „Lass die Finger von Owomoyela“.

Attackiert wurde übrigens schon immer nicht nur der Gegner, sondern bevorzugt auch der Unparteiische, den Fußballfans ohnehin immer dem Lager des Kontrahenten zugehörig wähnen. Bisweilen wurden die Anhänger dabei sogar dadaistisch: „Schiedsrichter Telefon, deine Alte wartet schon.“ In der Regel wurden aber vor allem Ähnlichkeiten zwischen den Referees und rosafarbenen Säugetieren mit Ringelschwänzchen gezogen.

So ausgiebig auch heute noch gesungen wird, so ist der Typus des singenden Fans dennoch eine gefährdete Spezies. Denn die Vereine haben in den letzten Jahren vieles getan, um den Anhängern das Singen zu verleiden. Konnten sich die Fans früher in der Stunde vor dem Spiel einsingen, dröhnt nun brechend-laute Kirmesmusik aus den Lautsprechern. Und auch die Umwandlung vieler Stehplätze in Sitzplätze hat die Stimmung verschlechtert. Es singt sich eben besser im Stehen, wusste schon Gotthilf Fischer.

Die Fans haben auf die neuen Verhältnisse reagiert. Um trotz der Rundumbeschallung wahrgenommen zu werden, leisten Vorsänger wie der Frankfurter Stein jede Woche Schwerstarbeit. Und so werden auf den Rängen inzwischen sogar mehrstrophige Lieder gesungen. Verlorengegangen ist dabei allerdings die Anarchie früherer Tage. Spontane Einfälle aus dem Blockinneren sind seltener geworden. Zu pausenlos und animierend sind die Aktionen der Vorsänger, die kaum mehr zu Atem kommen.

Zumal wenn auch noch internationale Einsätze hinzukommen wie bei der Frankfurter Eintracht, wo die Anhänger nach der Qualifikation für den Uefa-Cup gerne an glorreiche Zeiten erinnern: „Wir haben die Eintracht im Endspiel gesehen, mit dem Jürgen, mit dem Jürgen. Sie spielte so stark, und sie spielte so schön, mit dem Jürgen Grabowski.“

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