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Sport: Letzter Rückhalt

Torhüter Johannes Bitter muss im entscheidenden Moment Henning Fritz vertreten – und begeistert Fans und Mitspieler

Seit Albert Einstein wissen wir, dass die Zeit kein Phänomen ist, das nur mit der Uhr gemessen wird. Entscheidend ist das Verhältnis zwischen Zeit und Raum, eine halbe Stunde in einem Weltmeisterschaftsfinale in der ausverkauften Kölnarena kann da schon mal viel länger sein als 30 Minuten. Henning Fritz hat am Sonntag ein gewisses Verständnis für die Relativitätstheorie entwickelt, als er gestern ein knappes halbes Stündchen auf der deutschen Mannschaftsbank saß, „aber angefühlt hat es sich wie ein Jahr“. Für manchen deutschen Fans schien das Ende aller Zeiten nah, als der Nationaltorhüter in der 35. Minute umknickte, ein paar Minuten lag behandelt wurde und dann Richtung Bank humpelte. Fritz ist der überragende Torhüter dieses WM-Turniers, und auch im Finale hat er ein perfektes Spiel gezeigt. Wie würde die deutsche Mannschaft seinen Ausfall verkraften?

Johannes Bitter hat Fritz in diesem gefühlten Jahr vertreten, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte die Uhr in diesem Spiel gegen Polen bis in alle Ewigkeit ticken können. Als dann wie geplant Schluss ist nach exakt einer Stunde, fasst er sich erst einmal an den Kopf. Als sich die erste Irritation legt, sagt Bitter, er empfinde „irgendwas zwischen riesiger Freude und gar nichts“. Was für eine seltsame Geschichte. Der Ersatztorhüter Johannes Bitter hat die deutsche Nationalmannschaft mit neun spektakulären Paraden zum Weltmeister gemacht.

Johannes Bitter und Polen – da war mal was, und das ist nicht gar nicht so lange her. Vor knapp zwei Wochen hatte der Magdeburger im Vorrundenspiel gegen die Polen das Tor gehütet. Es war dieses Spiel in Halle/Westfalen, das den Deutschen „keine Angst, aber doch Respekt“ (Kapitän Markus Baur) vor den Polen gelehrt hatte. Der Respekt trug das weiße Trikot mit der Nummer acht. Karol Bielecki hatte beim 27:25 sieben Tore erzielt und die deutschen Spieler mächtig verärgert. Himmel, warum gerade Bielecki, sie sehen ihn doch Woche für Woche in der Bundesliga. Bielecki spielt für den SC Magdeburg, Seite an Seite mit Johannes Bitter. Einen Ball nach dem anderen setzte der 2,02 Meter große Hüne dem deutschen Torwart um die Ohren, bis Trainer Heiner Brand nach 17 Minuten ein Einsehen hatte und Fritz für Bitter ins Tor schickte. Für den zuletzt in der Bundesliga schwächelnden Fritz war es der Anfang eines grandiosen Comebacks, und Bitter hatte fortan seinen Stammplatz auf der Bank.

Nun ist das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Torhütern ein anderes als das der Herren Lehmann und Kahn. Bitter hat bei dieser WM noch jede Gelegenheit genutzt, seine Solidarität mit Fritz zu demonstrieren. In jeder Auszeit läuft er zu ihm und legt den Arm um ihn, und wenn Fritz einen Ball hält, jubelt keiner so laut wie Johannes Bitter. Als er in dieser 35. Minute beim Stand von 21:14 ins Tor geht, feiern ihn die Fans in der Kölnarena mit lang anhaltenden „Jogi, Jogi!“-Rufen. Er macht ein paar Gymnastikübungen und dehnt sich, aber es hilft nichts. Bitter ist kalt und findet nicht ins Spiel, er lässt binnen zehn Minuten sieben Bälle passieren, und die Polen kommen auf 21:22 heran. Das Spiel scheint sich zu drehen, aber jetzt ist Bitter warm. Jurasik kommt von Rechtsaußen herangeflogen und scheitert am deutschen Torhüter, eine Minute später verhindert Bitter abermals gegen Jurasik den Ausgleich. Am Ende hat er in zwölf Minuten neun Bälle abgewehrt, nur drei Tore gelingen den Polen noch.

Karol Bielecki ist in dieser entscheidenden Phase des Spiels schon nicht mehr dabei. Im Halbfinale gegen Dänemark hat er noch acht Tore geworfen, aber gegen Deutschland geht gar nichts. Bielecki kommt auf eine für ihn katastrophale Quote von gerade drei Toren bei zwölf Würfen. Johannes Bitter versucht noch seine Gedanken zu ordnen, den Glückwunsch seines polnischen Kollegen aus Magdeburg nimmt er nur am Rande wahr. Das Schlusswort spricht der humpelnde Henning Fritz in die Mikrofone: „Ein Riesenkompliment an Jogi Bitter. Er kam in einer ganz, ganz schwierigen Situation und hat in der entscheidenden Phase der Mannschaft großen Rückhalt gegeben.“ So etwas hat Oliver Kahn über Jens Lehmann noch nie gesagt – nicht einmal nach dem Elfmeterschießen gegen Argentinien.

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