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Da ist was drin. Das Bernabéu hat viele Aufholjagden erlebt.

© dpa/Zipl

Der VfL Wolfsburg und die Champions League: Madrider Nächte sind lang

Der Mythos Bernabéu: Wird Real Madrid heute im eigenen Kult-Stadion zum Sieg tanzen oder lassen sich die Wolfsburger doch nicht überrollen?

Ganz in Blau konnte das ja nichts werden. Real Madrid ist ja nicht nur auf ewig dem Spektakel verpflichtet, sondern auch den blütenweißen Leibchen. Bei den blauen Señores Ronaldo, Benzema oder Kroos, die sich vor einer Woche lust- und mutlos in eine 0:2-Niederlage beim VfL Wolfsburg gefügt hatten, handelte es sich um ein schlechtes Plagiat. Reals Hausblatt „Marca“ suchte und fand zur Würdigung der zu bewältigenden Herausforderung eine Analogie in der Weltpolitik. „Si se puede“, hieß am Montag auf der Titelseite. Das Copyright dafür liegt bei Barack Obama, es ist schon ein paar Jahre alt und wird doch immer wieder gern zitiert: „Yes we can!“

Heute ist Schluss mit blau und lustig. Reals Verteidiger Daniel Carvajal hat den victimas de Wolfsburgo, den Opfern aus der niedersächsischen Provinz, ganz offiziell den Krieg erklärt: „Wir werden aufs Feld laufen, um Wolfsburg zu überrollen.“ Auf Twitter postete Stürmer Jesé: „Dienstag alle zusammen bis zum Tod!“ Kapitän Sergio Ramos verkündete: „Dieses Wappen zwingt uns zum Sieg.“ Cristiano Ronaldo versprach vergleichsweise zurückhaltend „eine magische Nacht“ mit viel Lärm, wie ihn die Belegschaft von Real Madrid selbst produziert vor dem Rückspiel im Viertelfinale der Champions League heute Abend im Estadio Santiago Bernabéu.

Man kennt das von Boxern, die sich vor wichtigen Kämpfen beleidigen, und nicht selten brüllen dabei die am lautesten, die am meisten zu verlieren haben. Und Real hat heute Abend verdammt viel zu verlieren. In der Meisterschaft ist bei vier Punkten Rückstand auf Platz eins nichts mehr zu holen, auch wenn der FC Barcelona gerade ein wenig schwächelt. Und im Pokal war schon in der vierten Runde Schluss, weil der vormalige Trainer Rafael Benitez beim Drittligisten Cadiz einen gesperrten Spieler eingesetzt hatte. Was bleibt, ist die Champions League, zumal sich Real ohnehin als europäische Hegemonialmacht definiert und nationale Titel kaum mehr als schmückendes Beiwerk sind.

Vor vier Jahren, als Real im Halbfinal-Rückspiel den FC Bayern erwartete, widmete „Marca“ dem Lieblingsfeind aus München eine ganz besondere Titelseite, sie reduzierte sich auf eine deutsche Schlagzeile: „90 Minuten im Bernabéu sind sehr lang.“ 90 Minuten sind 90 Minuten sind 90 Minuten, überall auf der Welt und doch nie gleich lang. Die Bayern quälten sich 2012 über die Verlängerung und ein Elfmeterschießen zum Weiterkommen im Bernabéu. Borussia Dortmund musste dort ein Jahr später eine sechsminütige Nachspielzeit durchleiden, und beinahe wäre der 4:1-Vorsprung aus dem Hinspiel noch aufgebraucht worden.

Real hat zwei Mal in Folge das Endspiel in der Champions League verpasst

Zweimal in Folge gegen deutsche Konkurrenz das Endspiel zu verpassen, das hat Real geschmerzt. Aber damals ging es gegen satisfaktionsfähige Mannschaften auf höchstem Niveau. Der FC Bayern etwa wird in Madrid immer noch als „bestia negra“ gefürchtet. Wer aber ist Wolfsburgo? Ein Niemand in den Augen der Madridistas, sie würden ihrer Mannschaft ein Ausscheiden nie verzeihen, aber daran mag ohnehin keiner ernsthaft glauben. Und bevor nun jemand auf die Idee kommt, den Wolfsburgern nach ihrer großartigen Performance im Hinspiel den Ehrentitel einer grünen Bestie zu verleihen: Der Terminus „Bestia negra“ hat im Spanischen keinen zoologischen Hintergrund, sein zahmes Äquivalent in der deutschen Sprache lautet „Angstgegner“.

Das mit den 90 Minuten sehr langen Minuten im Bernabéu geht zurück auf Reals früheren Verteidiger Juanito. Vor 30 Jahren soll er nach einer 1:3-Niederlage im Halbfinal-Hinspiel des Uefa-Cups die Kontrahenten von Inter Mailand mit eben dieser Bemerkung verunsichert haben. Real gewann das Rückspiel 5:1 (wenn auch erst nach Verlängerung), und seitdem geistert der Mythos der langen und lauten Nächte vom Rasen des Bernabéu über die fünf Tribünenringe hinauf bis unters Dach.

Reals Anhang eilt der Ruf eines launischen Theaterpublikums voraus, aber das trifft allein auf den Ligaalltag zu, wenn gegen die wehrlose Konkurrenz aus Eibar, Granada oder Las Palmas nicht früh genug reichlich Tore fallen. In der Champions League hört sich das ganz anders an, da veranstalten 80.000 Fans einen Lärm, der in Deutschland schon längst ein Bürgerbegehren zur Sperrung des Stadions für die Abendstunden provoziert hätte. Immerhin liegt das Bernabeu mitten in der Stadt, aber welcher Anwohner wird sich schon daran stören, wenn es denn nur zu einer remontada reicht, einer erfolgreichen Aufholjagd?

Si se puede!

- Sven Goldmann schreibt immer dienstags in den Spielwochen der Champions League über Kicker, Klubs und Klassiker in Europas Fußball.

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