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Langes Bein. Manuel Neuer zeigte Größe bei diesem Turnier als mitspielender Torwart.

© AFP

WM 2014 - Vor Finale Deutschland - Argentinien: Manuel Neuer ist ein Siegfried mit Handschuhen

Dieser Kerl ist riesig, gefühlte drei Meter. Wenn die Stürmer auf Manuel Neuer zulaufen, kriegen sie es mit der Angst zu tun. Der Torwart ist Deutschlands Trumpf im Finale.

Manuel Neuers Füße stecken in schwarz-rot-goldenen Birkenstock-Latschen. Sein großer rechter Zehennagel ist blau unterlaufen. Irgendein Spieler sei ihm draufgestiegen, sagt Neuer, in irgendeinem Spiel. So ganz genau wisse er das nicht mehr. Passiert halt im Fußball. Und außerdem: Was sind schon blaue Flecken, wenn am Ende das goldene Ding wartet, der Weltmeisterpokal. Er ist zum Greifen nah. Noch ein Sieg, dann läge den neuen deutschen Helden eine ganze Nation zu Füßen.

Noch sitzt Neuer im Schatten einer Pergola auf einem Regiestuhl. Wenn er seine kurzbehosten Beine ausstreckt, ist unter dem Tisch kein Platz mehr. Es gibt solche Menschen, die in Wirklichkeit größer sind, als sie das Fernsehen macht. Und es gibt Manuel Neuer. Wenn er seine Arme jetzt noch über den Kopf ausstreckte, kein Ball mehr würde zwischen ihn und das Pergoladach passen. Dieser Kerl ist riesig, gefühlte drei Meter lang. Welcher Stürmer möchte auf diesen Hünen im Tor zulaufen, in einem WM-Finale, mit 75.000 auf den Rängen ringsum und zwei Milliarden vor den Fernsehgeräten weltweit. Es gibt nur ganz wenige solcher Typen, die den gegnerischen Stürmern das Blut in den Adern erstarren lassen, die ihnen irgendwie den Stecker ziehen.

„Das Tor so klein und mich so groß wie möglich machen.“ Das hat Neuer nicht hier in Brasilien erzählt, sondern vor vier Jahren bei der Weltmeisterschaft in Südafrika. Damals war er 24 und eher durch ein Missgeschick seines Konkurrenten ins deutsche Tor gerutscht. René Adler war eigentlich ausgeguckt worden, als deutsche Nummer eins ins Turnier zu gehen. An dem Tag, als Joachim Löw sich entschieden hatte, saßen Neuer und Adler gemeinsam am Frühstückstisch. Dann hieß es, dass der Bundestrainer sie beide noch sprechen wolle.

2010 wurde er durch die Verletzung von Rene Adler zur Nummer eins

Neuer ist damals als Erster zu Löw gegangen, weil er endlich wissen wollte, was los ist. „Ich mochte nicht mehr gemütlich noch einen Orangensaft trinken“, hat Neuer damals erzählt. Das Gespräch war dann nicht so lang, Löw habe ihm schnell zu verstehen gegeben, was los ist. Dass Adler in entscheidenden Spielen gut gespielt und in diesen Drucksituationen seine Leistung gebracht habe. Neuer akzeptierte, obgleich er sich ärgerte. Er ist damals nach dem kurzen Gespräch mit Löw in den Kraftraum des Mannschaftshotels gegangen. Nicht, um sich abzureagieren und aus lauter Wut und Verzweiflung Gewichte zu stemmen, wie er damals erzählte. Sondern: „Ich habe mein normales Programm gemacht.“ Kurz vor der WM verletzte sich Adler dann, Löw schenkte Neuer das Vertrauen und wurde belohnt. Neuer hechtete durch die Strafräume von Johannesburg, Bloemfontein und Kapstadt und kehrte neben dem blutjungen Torschützenkönig Thomas Müller als neuer deutscher Held zurück.

Auch deswegen war kürzlich der Aufschrei in Deutschland so laut, als Manuel Neuer sich kurz vor dem Turnier in Brasilien schwer verletzte. Mitte Mai war er im deutschen Pokalfinale mit Bayern München gegen Dortmund derart übel auf seine rechte Schulter gefallen, dass er zwei Wochen lang seinen rechten Arm nicht richtig heben konnte. Derselbe Arm war es, der sieben Wochen später in der Nachspielzeit des WM-Viertelfinales herausschnellte und eine wackelnde deutsche Mannschaft gegen Frankreich im Turnier und den Traum vom Titel am Leben hielt.

"Manuel Neuer ist ein Geschenk für uns alle."

„Manuel Neuer ist ein Geschenk für uns alle. Er ist der beste Torwart der Welt“, sagte Bastian Schweinsteiger nach dem Spiel gegen die Franzosen. Schweinsteiger mag für manche noch immer der emotionale Leader des Teams sein, zu dem ihn Löw vor ein paar Jahren ausgerufen hatte. Hier in Brasilien spielte er lange wie ein Veteran, der sich darauf zu konzentrieren hatte, zu Kräften zu kommen. Schweinsteiger hat noch immer eine gute Präsenz, auch hat sein Wort noch Gewicht, aber die Mannschaft ziehen und tragen andere durchs Turnier. Wie Thomas Müller, der fünffache Torschütze, oder eben Neuer.

„Die stille Autorität“ von Manuel Neuer unterstreiche die deutsche Effizienz, befand nach dem Frankreichspiel „The Times“ und schrieb weiter: „Die bisher nicht beantwortete Frage war, ob diese Gruppe von Spielern in der K.-o.-Phase die Siegermentalität und Effizienz des teutonischen Stereotyps entwickeln konnte. Diese Frage haben sie in der drückend heißen Atmosphäre des Maracana mehr als beantwortet.“

Wenn der Bundestrainer dieser Tage über seine Nummer eins sprach, dann hörte sich das so an: „Das ist insgesamt ein wahnsinnig gutes Gefühl für die Abwehr, wenn man weiß, der Torhüter ist in der Strafraumbeherrschung gut, auf der Linie überragend, außerhalb des Strafraumes gut, fußballerisch gut.“ Man kann es aber auch so sehen: Manuel Neuer steht in der Blüte seiner Karriere.

Es eine Karriere, wie sie nicht vorhersehbar war

Es ist eine Karriere, die ihn zum FC Bayern brachte, wo er im vergangenen Jahr das Triple holte und vor Gianluigi Buffon von Juventus Turin und Petr Cech vom FC Chelsea zum Welttorhüter des Jahres gewählt wurde. Es ist aber auch eine Karriere, wie sie nicht vorhersehbar war. „Ich habe ja auch relativ gut Tennis gespielt, aber dann habe ich mir zum Glück das Richtige ausgesucht“, hat Manuel Neuer unter der Pergola erzählt. Tennis spiele er heute noch gern und gut, aber das nur noch, weil es ganz nützlich sei für sein Torwartspiel. Auch da ginge es um die Fähigkeit des Antizipierens und der Raumbeherrschung.

Körperliche Größe kann dabei auch nicht schaden. Und da klemmte es. Als Manuel Neuer fünf war und beim FC Schalke eintrat, war noch alles anders. Weil er klein war und neu, musste er ins Tor. Nur blieb er sehr lange klein, bis 14, 15. Weswegen er auch aus der Westfalen-Auswahl flog. Heute lacht er darüber, aber damals war es wirklich ein heikles Thema im Hause der Neuers in Gelsenkirchen-Buer. Als er immer und immer wieder zum Zollstock griff, um nachzusehen, ob vielleicht ein Zentimeter dazu gekommen war. Es sei so weit gegangen, dass der Bengel seine Eltern traktierte und sie sicherheitshalber vermaß: Mutter, 1,74 Meter, Vater 1,89 Meter. Irgendwann beschloss Neuer, sich keine Gedanken mehr zu machen. Und wuchs.

Allein seine körperliche Präsenz kann furchteinflößend sein

Aus ihm ist ein prächtiger Kerl geworden, Typ deutscher Siegfried: groß, blond, breitschultrig. Allein seine körperliche Präsenz kann furchteinflößend sein. Wenn Manuel Neuer heute vor jedem Spiel seine einhundertdreiundneunzig Körperzentimeter dehnt, sieht das gewaltig aus. Und erst seine Blicke. Es sind Blicke, wie sie aus dem immer noch jungenhaften Gesicht nicht erwartbar sind. „Ich versuche natürlich der gegnerischen Mannschaft zu suggerieren: Egal, was ihr macht, ihr habt keine Chance“, sagt Neuer.

Auch Oliver Kahn hatte zu seiner Zeit so etwas, nur war sein Körperausdruck von Besessenheit und Wildheit geprägt. Neuer ist da anders. Er bleibt auch in größter Hektik ruhig. Und diese Ruhe strahlt auf seine Vorderleute ab. Das schätzen sie an ihm. Wo sie dazu noch wissen, dass sie ihn jederzeit, gerade in Situationen, wenn es brenzlig wird, anspielen können. Und wenn es sein muss, wenn also ein Ball der Abwehr durchrutscht oder über sie hinwegsegelt, fegt er eben lautlos dazwischen oder spielt den Libero, wie im Achtelfinale gegen Algerien.

„Es reicht einfach nicht mehr, den Fünfmeterraum oder sogar den Strafraum zu beherrschen“, hat neulich Andreas Köpke gesagt. Von einem modernen Torwart werde heute verlangt, dass er Gegenangriffe einleitet, dazu soll er auf der Linie richtig gut sein. Die Position sei verdammt komplex geworden.

Köpke war 1996 Welttorhüter geworden. 1999, 2001 und 2002 folgte ihm Kahn. Beide waren noch klassische Reaktionstorhüter, für die das Bällehalten über allem stand. Neuer dagegen ist mit einer anderen Lehre groß geworden, sagt Köpke. Köpke ist seit 2004 Torwarttrainer der Nationalmannschaft. Er weiß noch bestens, dass es ein wenig gedauert hat, bis sich die Nation der Torhüter auf das neue Modell verständigt hatte. Deutschland ist schließlich Torhüterland.

Viele Spiele bei der WM wurden von den Torhütern entschieden

Und diese südamerikanische WM ist ein Torhüter-Turnier. Viele Spiele wurden von den Männern zwischen den Pfosten entschieden. Neuer würde sich nie hinstellen und das so sagen. Für ihn ist das Team der Star. Und doch ist es so, dass Neuer mehr Gehör findet, gerade auch beim Bundestrainer. Im Herbst 2012 hatte Neuer auch unter dem Eindruck eines wilden 4:4 gegen Schweden noch Löw widersprochen, als dieser im ZDF-Sportstudio sagte, dass es auch nach dem verspielten 4:0-Vorsprung keine Alternative zur Angriffsphilosophie des deutschen Teams gebe. Neuer forderte dagegen, doch bitte wieder mehr Wert auf die Defensive zu legen.

Bei diesem Turnier tut es die deutsche Mannschaft. Sie steht wesentlich stabiler in der Defensive, und dann ist hinten immer noch Neuer da. Es sollte reichen für den Titel.

Bei Toni Schumacher und Oliver Kahn hat es nicht gereicht. Beide haben 1986 und 2002 jeweils überragende Turniere gespielt und sind doch nicht Weltmeister geworden. Sepp Maier schon. Denn Maier hat im wichtigsten Spiel seiner Karriere die beste Leistung seiner Karriere gezeigt. 1974 war's, im WM-Finale. Deutschland wurde Weltmeister. Auch seinetwegen. Vorne bombte Müller, hinten sprang die Katze von Anzing.

Kahn hat im wichtigsten Spiel seiner Karriere 2002 den schlimmsten Patzer seiner Karriere gemacht.

Die Geschichte ist also erst zu Ende, wenn sie zu Ende gebracht ist: Kahn wurde 2002 zum besten Spieler der WM gewählt – allerdings wurde vor dem Finale abgestimmt. Manuel Neuer hat die große Chance, auch diesen einen letzten Schritt weiter zu kommen. Zur Not auch mit blauen Füßen.

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