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Sport: Meine liebe Liga

Die Bundesliga geht in ihre 50. Saison. Peter Müller war immer dabei, der HSV-Fan hat seit 1963 eine Dauerkarte. Auch der Kommerz der Neuzeit kann ihn nicht vergraulen.

Als klar ist, dass die besten Spieler und Mannschaften ab sofort alle zwei Wochen in seine Stadt kommen, zögert Peter Müller nicht lange. Der Hamburger ist 31 Jahre alt, als die Bundesliga, die neue höchste deutsche Spielklasse, ihren Betrieb aufnimmt, er will den bestmöglichen Fußball aus der Nähe sehen, so oft wie möglich. Und das nicht alleine, Fußball ist nun mal auch Familiensache. „Die Dauerkarte war ein ideales Geschenk für meinen Vater“, sagt Müller heute. Am 31. August, dem zweiten Spieltag der Saison 1963/64, sehen Vater und Sohn gemeinsam das erste Bundesliga-Heimspiel des Hamburger SV, einen 4:2-Sieg gegen den 1. FC Saarbrücken. Seitdem hat Peter Müller seine Dauerkarte nie abgegeben, er hat Siege des HSV bejubelt und Niederlagen betrauert, er hat die Liga wachsen und aufblühen sehen, die Hamburger sind als einziges Gründungsmitglied nie abgestiegen. Heute ist Peter Müller 80 Jahre alt und geht wie die Bundesliga in seine 50. Saison, am Sonnabend wird er wieder seinen Platz auf der Westtribüne einnehmen, Block A, vierte Reihe, zwischen Strafraum und Mittellinie. „Ich sitze so nah dran, dass ich den Spielern etwas zurufen kann, wenn sie nicht ordentlich kämpfen“, erzählt Müller. Das macht er manchmal immer noch: „Zieh die Beine nach, du Blödmann.“

Peter Müller wäre vor 49 Jahren auch zu Victoria Hamburg oder sogar zum FC St. Pauli gepilgert, hätten diese Vereine in der Bundesliga gespielt. „Der Antrieb war der Fußball – und nicht der HSV“, sagt er. 1963 tritt der HSV mit einer Mannschaft aus Hamburgern an, die halb professionellen Spieler, die höchstens 1500 D-Mark pro Monat verdienen, und die Zuschauer laufen sich bei der Arbeit oder in der Stadt bisweilen über den Weg. Auch andere Bundesligisten treten mit besseren Auswahlmannschaften ihrer Städte an. „Die Nähe war eine ganz andere“, sagt Müller. Man merkt, dass er bei weitem nicht mit allen Entwicklungen einverstanden ist, die Verein und Liga genommen haben. Im April 2010 ist Müller im Stadion, als der peruanische HSV-Profi Paulo Guerrero einem Fan eine Trinkflasche an den Kopf wirft – „so etwas hätte es früher nie gegeben“.

Peter Müller und sein Vater erleben von ihren Plätzen aus mit, wie sich die Bundesliga wandelt. Unter der Woche arbeitet er als Schifffahrtskaufmann bei einer großen Reederei, am Wochenende besucht er vor der Fahrt zum Stadion seine Eltern zum Mittagessen. Er wünscht sich dann meist süße Spezialitäten aus der schleswig-holsteinischen Heimat seiner Mutter, Brotpudding oder Langer Hans. Bei den HSV-Heimspielen geht es mittlerweile weniger traditionell zu. Die Klubs haben Trikotsponsoren eingeführt, die Hamburger werben erst für Campari, später für BP und Hitachi. Vereinspräsident Peter Krohn lässt die Mannschaft 1976/77 in rosa Trikots antreten, der Aufschrei ist groß, die Aufmerksamkeit und der Werbeeffekt sind noch größer. Längst spielen auch Nicht-Hamburger und ausländische Spieler auf dem Platz, noch später laufen elf Profis aus dem Ausland für den HSV auf. „Heute sind es nur noch Söldner“, sagt Peter Müller.

Der HSV spielt längst in einem neuen Stadion, als erster Bundesligist hat er den Namen seiner Spielstätte an einen Sponsoren verkauft. „Wenn man so etwas macht, dann kann man auch den 1. FC Imtech gegen Iduna Dortmund spielen lassen, das ist doch alles Käse“, sagt Müller. „Das alles zeugt davon, dass der Kommerz herrscht.“ Der Fußball, wie er einmal war, wird „völlig an die Wand gequetscht“. Im Sommer 2007 will HSV-Spielmacher Rafael van der Vaart einen Wechsel zum FC Valencia, er posiert mit dem Trikot des spanischen Vereins, obwohl er sonst öffentlich stets von Hamburg schwärmt. Für Müller ist es völlig unverständlich, dass der HSV den Niederländer nach dieser Aktion behält – und jetzt vielleicht sogar zurück holen will. „Wer so etwas mitmacht, hat die Seele des Fußballfans nicht erkannt“, schimpft er. „Im Gegenteil: Er tritt diese Seele mit Füßen. Das ist etwas, was den Fußball total ruiniert.“

1986 stirbt sein Vater im Alter von 89 Jahren, Peter Müller bleibt dem HSV trotzdem treu. Der Kommerz hat ihn nicht abschrecken können: „Ich sehe über diese Auswüchse hinweg, weil ich den Fußball immer noch liebe. Es gibt immer noch Spieler, die Fußball als ehrliche Arbeit betrachten.“ Seeler, Hrubesch, Kaltz, Keegan – es schwingt große Bewunderung mit, wenn der Rentner von den früheren HSV-Helden erzählt. Einmal, erinnert sich Peter Müller, habe Kevin Keegan die Fans über die Hamburger Zeitungen zum gemeinsamen Schneeschippen aufgerufen, um das Stadion rechtzeitig zum Anpfiff spielfertig zu bekommen. „Natürlich war das auch ein Gag für die Presse – aber Keegan war dabei!“

Über die Dauer eines knappen halben Jahrhunderts hat Peter Müller auch verfolgt, wie sich das Geschehen auf dem Rasen verändert hat. „Es gibt gute Mannschaften und es gibt schlechte Mannschaften – mit einer Dauerkarte siehst du sie alle.“ Das Spiel ist technisch besser, geworden und schneller, die Begeisterung auf den Rängen, die Fankultur, ist seiner Ansicht nach über die Jahrzehnte immer weiter gewachsen. 1963/64 kommen im Schnitt 24 624 Zuschauer zu den Spielen, 2011/2012 sind es 44 293. Peter Müller ist immer wieder beeindruckt, wie viel Leidenschaft die Fans für ihren Verein und ihr Spiel aufbringen. An den Ultras mag er nicht, dass sie sich gegenseitig decken, wenn einer von ihnen einen Bierbecher wirft oder Feuerwerk zündet, „das ist falsche Kameraderie“. Nicht zu verwechseln mit dem echten, tiefen Zusammengehörigkeitsgefühl, das über 90 Minuten entstehen kann. Wenn alle Zuschauer nach einer Niederlage in letzter Sekunde gemeinsam das Stadion schweigend verlassen: „Jung und alt, der Professor neben dem Straßenfeger, keiner spricht, keiner lacht.“ Was seine Dauerkarte 1963 gekostet hat, kann Peter Müller nicht mehr genau sagen. Für die Spielzeit 2012/2013 hat er dem HSV jedenfalls 580 Euro überwiesen, Mitgliedsrabatt inklusive. Im freien Verkauf würde sein Platz in der vierten Reihe 94 Euro kosten, „was eine Frechheit ist“, wie Müller sagt. Vor der Saison hat er sogar zum ersten Mal überhaupt überlegt, ganz auf die Dauerkarte zu verzichten. „Der Einsatz der Spieler war nicht da, die Einkaufspolitik war falsch, der Vorstand redet sich die Dinge schön.“ Für die kommende Saison sagt er sogar das Ende des Bundesliga-Dinosauriers Hamburger SV voraus: „Ich denke, wir werden den HSV absteigen sehen. Da bin ich nicht der einzige in Hamburg.“ Zudem hat ihn gewurmt, dass der Klub nicht reagiert hat, als er per E-Mail anfragte, ob man den ewigen Dauerkartenbesitzern, „den Treuesten der Treuen“, nicht eine kleine Ehrung zuteil werden lassen könne. „Das macht man einfach nicht“, sagt er. „Mir gehört ein Teil dieses Stadions, das habe ich mit meinen Dauerkarten finanziert.“

Am Sonnabend, wenn der 1. FC Nürnberg in Hamburg zu Gast ist, wird Peter Müller trotzdem eine neue Tradition begründen. Sein 29-jähriger Sohn hat sein Studium im Ausland abgeschlossen und wohnt wieder in Hamburg. Er wird seine Eltern zuhause in Wellingsbüttel besuchen, dann werden Vater und Sohn in die S-Bahn steigen und zum Stadion fahren. Peter Müller hat für seine 50. Saison mit der Bundesliga und dem HSV nicht eine Dauerkarte bestellt, sondern zwei.

Die Seele des Fußballs

werde oft mit Füßen getreten,

findet der 80-Jährige

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