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Sport: Meisterin der Herzen

Mit Charme und Stärke wurde Läuferin Ana Guevara zum Star

Paris. Das Mädchen hieß Teresa. Es war 14 Jahre alt, lag in einem Krankenhaus in Mexiko und schrieb viele Briefe an sein Idol. „Bitte, Ana, besuche mich mal“, schrieb Teresa. Und dann, eines guten Tages, tauchte Ana Guevara tatsächlich am Krankenbett auf. Sie redete lange mit Teresa, und die Ärzte und Krankenschwestern waren in heller Aufregung. Sie haben nicht oft eine Nationalheldin in ihrem Krankenhaus. Die Zeitungen berichteten über den Besuch, drei Wochen später lief Ana Guevara, die 400-m-Läuferin, bei den Panamerikanischen Spielen 2003 in der Dominikanischen Republik. Sie gewann das Rennen, und nach dem Lauf trug sie ein T-Shirt mit einer Botschaft. „Grüße an Teresa“, hatte sie auf den Stoff geschrieben. Mexikos Fernsehsender fingen den Gruß ein, und die Nation war gerührt.

Rührend – das ist die eine Seite von Ana Guevara: eine hilfsbereite, fürsorgliche Frau. Aber es gibt auch noch eine andere Ana Guevara: die Frau, die demonstrativ Stärke zeigt. Körperliche Stärke. Diese Ana Guevara präsentierte sich am Mittwochabend in Paris, nach dem 400-m-Finale der Leichtathletik-Weltmeisterschaften. Guevara hatte souverän gewonnen, in 48,89 Sekunden. Eigentlich war schon vorher klar, dass sie gewinnen würde – seit der WM 2001 in Edmonton (als sie Bronze gewann) hat sie kein Rennen mehr verloren. Demonstrativ lief sie nach ihrem Sieg in Paris zu den Zuschauern, es kam die Ana-Guevara-Muskel-Show. Die 26-Jährige zeigte ihre Oberarm-Muskeln, wie es Bodybuilder beim Wettbewerb machen, der Schweiß auf ihrer Haut glänzte im Scheinwerferlicht. Rührend sah das nicht aus, es war eher das Bild einer Angeberin.

Ana Guevara hat sich keinen Gefallen mit diesem Bild getan. Sie nährt damit Unbehagen. Ihre Muskeln fallen schon lange auf in der Leichtathletik-Szene, außerdem trägt sie eine Zahnspange, mit 26 Jahren. Bei Zahnspangen denken viele Beobachter automatisch an Wachstumshormone.

Vielleicht glaubte Ana Guevara auch bloß, sie müsste sich an ein paar Regeln ihres Landes halten. In Mexiko produzieren sich viele Machos, und wenn sie denen ihre Kraft entgegensetzt, sind die möglicherweise beeindruckt. Denn Ana Guevara weckt Eifersucht. Sie ist eine der populärsten Figuren in der mexikanischen Leichtathletik, eine Frau in einer Männergesellschaft. „Ihre Erfolge wecken bei vielen Männern Eifersucht, unterschwellig jedenfalls", sagt Guevaras Landsmann Moreno Bravo, hoher Funktionär des Leichtathletik-Weltverbands IAAF. Trotzdem „ist sie in Mexiko populärer als Haile Gebrselassie in Äthiopien“, behauptet ihr Manager Jos Hermens.

Auf jeden Fall überträgt das mexikanische Fernsehen mit Spitzenquoten jedes ihrer Rennen live. Der Staatspräsident empfängt die frühere Basketballerin, und der nationale Telekommunikations-Konzern Telemax ist stolz darauf, ihr Hauptsponsor zu sein. Als Guevara im Mai 2003 im Olympiastadion von Mexiko-Stadt Weltrekord über 300 m lief (35,30 Sekunden), jubelten ihr 50 000 Zuschauer auf den Rängen zu.

Vielleicht verkörpert Mexikos beliebteste Sportlerin die optimale Mischung. Erfolgreich, extrovertiert, patriotisch, zurückhaltend. Zurückhaltend? Ja, im mexikanischen Alltag hält sie sich gern bedeckt. „Sie mag Radio- und Fernsehauftritte nicht“, sagt Moreno Bravo, der Funktionär. „Sie ist eigentlich eine sehr ruhige und charmante Person.“ Guevara zieht nicht in die USA, um zu trainieren, sie bleibt meist in Mexiko, obwohl es dort nur ein gutes Trainingszentrum gibt. Und sie verkündete nach ihrem Sieg: „Dieser Erfolg ist sehr wichtig für Mexiko und für ganz Lateinamerika.“ Das war wieder rührend. Nur Teresa grüßte sie diesmal nicht.

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