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Sport: Mental unreif

In Wimbledon enttäuschen die jungen deutschen Spieler – nur Haas und Kiefer überzeugen

Es ist gar nicht allzu lange her, da war das Abitur gemeinhin noch als Reifeprüfung bekannt. Als letzter großer Test wurde sie damals verstanden, nach deren Bestehen die Schüler in der Lage sein sollten, sich in der rauen Wirklichkeit des Erwachsenenlebens zurechtzufinden. Auch unter Tennis-Profis gibt es diese Prüfung, zumindest gefühlt, und legt man diese Maßstäbe beim diesjährigen Turnier in Wimbledon an, so steht fest, dass Reife doch mit einem gewissen Alter verknüpft ist. Denn nach der ersten Woche sind es wieder einmal Thomas Haas und Nicolas Kiefer, die als einzige deutsche Spieler überzeugen.

Beide sind als bald 30-Jährige im Herbst ihrer Karriere angekommen und der Ruf nach den neuen „jungen Wilden“ wurde bereits mehrfach angestimmt. Doch beim wichtigsten Turnier des Jahres zeigte sich deutlich, dass bei den Jungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit eine Lücke klafft. Und das ist nicht ihrem mangelnden Talent geschuldet, sondern fehlender mentaler Reife. Sie hinderte die Talente bisher daran, das Spielvermögen abzurufen, das sie auch selbst von sich erwarten. Nach Runde zwei war spätestens Schluss, in Wimbledon ist die nächste Spielergeneration einmal mehr durchgefallen.

Was für den Durchschnittsintellektuellen das Abitur ist, das sind für Tennisakteure die Grand Slams. An ihren Leistungen in Melbourne, Paris, London und New York werden sie gemessen, dort müssen sie sich zeigen, auf den Punkt bereit sein. Vielleicht hätte die zweite Garde ein wenig bei Haas und Kiefer „abschreiben“ sollen, denn die beiden Rekonvaleszenten demonstrieren derzeit, wie man sich bei Großereignissen präsentieren muss: kämpferisch, aggressiv, mit unbändigem Siegeswillen. Haas steht nach einer Kraftleistung im Achtelfinale gegen Roger Federer, Kiefers Drittrundenmatch gegen Novak Djokovic wurde wegen des Dauerregens auf Montag verschoben.

Dabei schienen die Voraussetzungen für beide alles andere als optimal. Haas musste vor Wimbledon sechs Wochen pausieren, Kiefer hatte nach einem Jahr Zwangsabstinenz erst ein offiziell gewertetes Match auf dem Konto. Doch auf Anhieb liefen sie zu alter oder vielleicht neuer Stärke auf. Es hat auch in ihren Karrieren Phasen gegeben, in denen sie nicht das Maximale aus ihren Möglichkeiten gemacht haben. Doch in den letzten Monaten hat sich in ihrem Spiel und auch in ihrer Einstellung etwas verändert. Sowohl Haas als auch Kiefer erlebten Momente, in denen sie um die Fortsetzung ihrer Karriere fürchten mussten. Zudem spürten sie, dass ihnen mit fast 30 als Sportler nicht mehr ewig Zeit bleiben würde, was mit der neuen „Jetzt oder nie“-Einstellung nun offenbar frische Kräfte freisetzt.

Davon war bei ihren Nachfolgern nicht viel zu spüren, obwohl sie nach dem Debakel bei den French Open auf Wiedergutmachung sinnten. Rasen sei sein Lieblingsbelag, ließ Florian Mayer freudestrahlend verlauten und der einstige Viertelfinalist von Wimbledon verkaufte sich auch zunächst nicht schlecht. Er kämpfte gegen Jarkko Nieminen in der zweiten Runde nach Kräften, war über fünf Sätze hinweg eigentlich der bessere Spieler. Doch der Finne wollte den Sieg ein bisschen mehr als Mayer, dessen größte Schwäche nach wie vor sein labiles Nervenkostüm und seine wenig furchteinflößende Körpersprache ist.

Auch Benjamin Becker blieb hinter den Erwartungen zurück. Dem Newcomer des letzten Jahres mangelt es trotz seiner 26 Jahre noch an der nötigen Abgezocktheit, um eine 2:0-Satzführung nicht mehr aus den Händen zu geben. Die größte Enttäuschung war jedoch Philipp Kohlschreiber, der Shooting-Star der vergangenen Wochen, der bei den French Open seinen ersten herben Dämpfer erlitten hatte. Die richtige Konsequenz schien der 23-Jährige aus seinem Zweitrundenaus von Paris nicht gezogen zu haben, denn in Wimbledon scheiterte Kohlschreiber bereits zum Auftakt. Seine Erklärung war zwar ehrlich, aber auch bedenklich: „Ich habe schon mit einem Auge auf das Viertelfinale geschaut und vergessen, dass ich noch die erste Runde gewinnen muss“, gab er zu. Dass der Sieger des Turniers von München derzeit ein wenig die Bodenhaftung zu verlieren droht, dokumentieren auch Gerüchte aus dem Umfeld des Davis-Cup-Teams: Kohlschreiber soll sich sehr für Thomas Hogstedt, den aktuellen Trainer von Haas interessieren. Doch ob ihm Hogstedt dazu verhelfen könnte, die Fußstapfen von Haas auszufüllen, ist fraglich. Ad hoc sicher nicht, das zeigte sich in Wimbledon allein daran, wie schnell sich Kohlschreiber von äußeren Bedingungen nerven ließ und die Niederlage fast willenlos hinnahm. Mentale Stärke sieht anders aus.

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