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Sport: „Mich führt keiner an der Leine“

Sebastian Deisler rechnet mit Hertha BSC ab und spricht über seine Seele, seine Verletzungen und die Lust am Fußball in München

Herr Deisler, Sie haben mal gesagt, Sie hören nur noch auf Ihr Knie. Was sagt es Ihnen jetzt?

Dem Knie geht es gut, sehr gut sogar. Mich bedrückt aber etwas anderes. Es gibt da etwas, das ich herumschleppe, was in mir ist. Und das möchte ich endlich loswerden, weil es nicht meins ist. Seit eineinhalb Jahren habe ich versucht, diese Sache zu tragen. Jetzt muss sie raus, weil der Druck zu groß wird. Ich möchte Ihnen meine Geschichte erzählen.

Die Geschichte eines großen Missverständnisses?

Nein, es ist mehr. Das reicht zurück in den Sommer 2001, als es für mich darum ging: Bleibe ich in Berlin oder gehe ich zum FC Bayern nach München?

Sie haben sich für die Bayern entschieden. Das haben die Berliner Fans Ihnen sehr übel genommen. Vor allem die Art und Weise, wie die Sache ans Licht kam.

Ich habe mich sehr schwer getan mit der Entscheidung. Ich bin der Typ, der etwas länger über bestimmte Dinge nachdenkt. Die Entscheidung fiel dann im Urlaub. Als ich zurück nach Berlin kam, wollte ich den Verein sofort über meine Pläne informieren. Ich bin mit Hertha ins Trainingslager nach Kaprun gefahren. Dort, fünf Tage nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub, habe ich der sportlichen Leitung meine Entscheidung mitgeteilt. Nicht später, wie es von Vereinsseite immer dargestellt worden ist. Hertha hat mich damals sehr darum gebeten, mit der Bekanntgabe ein halbes Jahr zu warten. Man wollte keine Unruhe aufkommen lassen, um das Erreichen der sportlichen Ziele nicht in Gefahr geraten zu lassen. Hertha ist ein ambitionierter Verein, in dessen Planungen ich eine entscheidende Rolle gespielt habe. Ich hatte Hertha einiges zu verdanken. Dort bin ich Nationalspieler geworden, ich habe in der Champions League gespielt, die Stadt hat mir gefallen. Deswegen habe ich diesem Wunsch nach Stillschweigen zugestimmt, so schwer es mir auch gefallen ist.

Haben Sie damals geahnt, was alles auf Sie zukommen würde?

Teilweise schon, nicht aber in letzter Konsequenz. Ich trug plötzlich eine Geschichte in mir, die ich für mich behalten musste. Sie müssen sich das mal so vorstellen: Jeden Tag, wirklich jeden Tag, standen die Journalisten vor der Kabine und stellten ihre Fragen. Verstehen Sie, jeden Tag Kameras, Mikrofone, Notizblöcke – jeden Tag. Und ich musste mir auf die Zunge beißen. Ich wurde einer, der ich nie sein wollte. Sie können sich nicht vorstellen, wie das ist – und gleichzeitig musst du noch spielen.

Wie haben Sie reagiert?

Mit Rückzug. Ich habe mich instinktiv innerlich zurückgezogen. Ich hatte ja ein reines Gewissen, aber ich wurde von Tag zu Tag verkrampfter. Sehen Sie, ich habe in jedem Spiel für Hertha mein Bestes gegeben. Ich habe mich nie geschont, nie für mich selbst gespielt, immer für die Mannschaft und den gemeinsamen Erfolg. Ich liebe dieses Spiel. Ich verlange sehr viel von mir. Das gibt mir den Auf und Antrieb. Ich spiele dafür, dass ich am Ende eines Spiels meinen Mitspielern in die Augen sehen kann und wir uns gemeinsam freuen können.

Die Freude ist Ihnen dann ziemlich schnell vergangen. Spätestens am 10. Oktober 2001.

Das war ein Mittwoch, und ich weiß heute noch, dass es ein schöner Tag war. Die Sonne schien. Auf meinem Platz in der Kabine lag die „Sport Bild“ mit einer großen Geschichte über mich. Über das Handgeld, das ich von den Bayern bekommen habe, und darüber, dass ich in Berlin den Verein und die Fans belogen hätte. In diesem Moment brach für mich eine Welt zusammen.

Wie müssen wir uns das vorstellen?

Ich bin raus auf den Trainingsplatz und habe trainiert. Nach dem Training war die Hölle los. In den folgenden drei Tagen war ich das Titelthema der „Bild“-Zeitung. Der Höhepunkt war dann der Samstag. Wir waren in Hamburg und sollten am Nachmittag gegen den HSV spielen. Als ich zum Frühstück ging, habe ich auf der Titelseite der „Bild“ meinen Kontoauszug gesehen – mit einer Überweisung von 20 Millionen Mark. Der ganze Zahlungsverkehr wurde veröffentlicht. Das war wie ein Keulenschlag. Trotzdem habe ich gegen den HSV gespielt.

Bis zur 70. Minute…

…in der ich mich am Knie verletzt habe. Die Kniescheibe war verrutscht. Ich habe aber nur an diese Bankgeschichte gedacht. Ein Bankangestellter hatte die Geschichte für viel Geld an die Zeitung verkauft. Von da an wurde die ganze Sache immer stressiger, wenn ich das mal diplomatisch ausdrücken darf. Ich dachte, ich zerbreche, es war kaum auszuhalten. Ich bin dann für vier Tage in die USA nach Vail geflogen, wo Dr. Steadman mich operiert hat. Für ein paar Tage habe ich den ganzen Trubel vergessen, aber ich musste ja wieder zurück. Mitten in der Nacht bin ich in Berlin angekommen. Ein paar Stunden später, so kurz nach acht, hat es an meiner Wohnungstür geklingelt.

Wütende Hertha-Fans?

Nein, die Steuerfahndung. Die wollten ein paar Dinge von mir wissen im Zusammenhang mit dem Handgeld, das ja in Wirklichkeit ein Darlehen des FC Bayern war und das ich später auch zurückgezahlt habe. Aber das Theater mit der Steuerfahndung war nicht das Schlimmste. Wissen Sie, man hatte mich geliebt in dieser Stadt. Über Nacht wurde ich gehasst. Ich konnte mich nicht mal wehren. Ich war verletzt, konnte nicht spielen und saß fünf Monate lang auf der Tribüne. Ich konnte einfach keine Antworten geben. Und dann ist etwas Ungeheuerliches passiert. Der Verein hat von mir verlangt, dass ich mich bei den Fans entschuldigen solle. Dafür, dass ich Geld kassiert habe, dass ich die Öffentlichkeit nicht früher über meinen Wechsel informiert habe, dass ich gelogen habe. Dabei hatte ich mich in der ganzen Geschichte doch nur dem Wunsch der Vereinsführung untergeordnet, ich habe dabei mein Image für Hertha riskiert. Sie können sich vorstellen, wie sprachlos ich war.

Sprachlosigkeit wird leicht als Schuldbekenntnis gewertet.

Ach, es wurden in dieser Zeit viele dumme Sachen in die Welt gesetzt. Ich hätte mich so verändert, sei so negativ geworden. Ich habe, nüchtern betrachtet, nichts Falsches getan, sondern nur einen nächsten, für mich notwendigen Schritt für meine Karriere als Fußballer beschlossen und eingeleitet.

Warum sind Sie denn niemals auf die entscheidenden Leute zugegangen und haben gesagt: Ich halte das Schweigen nicht mehr aus, wir müssen endlich die Wahrheit erzählen?

Ich hatte Hertha mein Wort gegeben, und dazu wollte ich stehen. Natürlich hätte ich mich hinstellen und den Fans sagen können: Hey, ihr pfeift den Falschen aus, ich habe mich völlig korrekt verhalten und dem Verein nur einen Gefallen getan. Aber das würde ich nie tun. Das ist nicht meine Art. So etwas hat keinen Stil.

Auf der anderen Seite hätte Hertha Sie von Ihrer Schweigepflicht entbinden können.

Es gab Momente, da habe ich auf so eine Reaktion gehofft. Ich war einfach schwer enttäuscht. Hertha hat mich im Stich gelassen. So richtig bewusst wurde mir das, als ich im März 2002 im Spiel gegen den 1. FC Nürnberg mein Comeback gegeben habe. Es war mein erstes Spiel seit fünf Monaten. Als ich eingewechselt wurde, haben mich 50 000 Menschen im Olympiastadion ausgepfiffen. Es kam mir vor, als würden 100 000 pfeifen. Sie können sich nicht vorstellen, wie weh so etwas tut. Selbst eine Woche später in Gladbach haben die Berliner Fans mich ausgepfiffen. Kurz darauf habe ich mir einen Muskelfaserriss im Training zugezogen. Im Training – na, fällt Ihnen was auf?

Was sollte uns denn auffallen?

Ich habe da meine Theorie: Der Körper reagiert auf solche Stresssituationen. Schon bei dem Trubel im Herbst wusste ich, dass etwas passieren würde. Ich meine jetzt nicht, dass ich die Verletzungen vorhergesehen habe, aber ich wusste, dass der Körper reagieren würde, dass er mir eine Auszeit geben würde, eine Rückzugsmöglichkeit. Glauben Sie mir, das habe ich gespürt, dieses Zusammenwirken zwischen Körper und Geist.

Sie hatten schon vorher einige Verletzungen.

Ja, aber diese hingen mit meinem Wachstum zusammen. Als ich 1995 nach Mönchengladbach gegangen bin, war ich 15 Jahre alt und nur 1,58 m groß. Erst später habe ich einen Wachstumsschub bekommen. Da gab es immer mal wieder Probleme mit den Bändern. Dehnungen und Zerrungen. Bei meinem ersten Bundesligaspiel vor fünf Jahren war ich ein Spargeltarzan. Das habe ich zu spüren bekommen. Ich kann mich noch gut an ein Kopfballduell mit dem Stuttgarter Soldo erinnern. Wir sind beide hochgesprungen, und ich bin von ihm zurückgeprallt, als wenn ich gegen einen Baum gesprungen wäre.

Der Muskelfaserriss beim Hertha-Training war noch nicht der Tiefpunkt eines denkwürdigen Jahres. Im Mai 2002 haben Sie sich beim Länderspiel gegen Österreich schwer verletzt. Kurz vor der Weltmeisterschaft in Asien.

Ich sollte für die Nationalmannschaft spielen, um mit zur WM zu fahren. Ob das vernünftig war von mir , darüber kann man geteilter Meinung sein. Ich habe mich jedenfalls wieder herangekämpft. Und ich habe gespielt. Erst gegen Kuwait, dann in Wales, das Spiel gegen Österreich war das dritte innerhalb von zehn Tagen. Da ist die Kniescheibe dann wieder rausgesprungen.

Die WM war für Sie gelaufen.

Ja, aber nicht nur die. Meine ganze Karriere wurde in Frage gestellt. Die Leute haben sich gefragt: Was ist mit dem Deisler? Der ist doch dauernd verletzt. Aus dem wird nichts mehr. Das ist ja, was mich generell stört. Es zählt nur noch, was man macht. Es geht vielen nur um Status, und sobald dieser erreicht ist, verstecken sie sich dahinter und lassen dann ihre Macht spielen. Es geht doch nur noch um Darstellung, um Machtgehabe in diesem Geschäft. Ich war damals tief enttäuscht, ich war sprachlos. Ich habe mich verweigert.

Sie ließen sich die Haare länger wachsen.

Ach, das waren doch nur Äußerlichkeiten. Ich bin unkonventionell. Mir geht es um andere Sachen. Ich trenne zwischen Privatperson und Fußballstar, an dieser Trennung habe ich immer gearbeitet. Ich gehe meinen Weg. Im Laufe meiner Karriere hat man mehrmals versucht, mir diesen Weg zu verstellen, man hat versucht, mich zu manipulieren. Aber das hat niemand geschafft, und das wird niemand schaffen. Ich lasse mich nicht verbiegen.

Es kostet Kraft, diesen Weg zu gehen.

Es kostet letztlich mehr, ihn nicht zu gehen. Je größer die Herausforderung ist, desto größer ist der persönliche Sieg. Ich bin nicht in einem Gefängnis. Mich führt keiner an der Leine. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin wahnsinnig stolz, beim FC Bayern zu spielen, aber ich habe meinen Kopf nicht abgegeben. Ich habe meine Verpflichtungen als Profi. Ich muss meine Leistung bringen, im Training arbeiten, zu Sponsorenterminen gehen. Die Öffentlichkeit hat ein gewisses Recht auf mich. Aber daneben läuft nichts. Ich bin frei. Diese Freiheit habe ich mir erarbeitet, und ich bin stolz darauf. Ich lasse sie mir nicht mehr nehmen.

Das ist bei Bayern München aber nicht ganz einfach.

Nichts gegen den FC Bayern! Das ist der mit Abstand menschlichste Verein, den ich kennen gelernt habe. Ich liebe es, bei den Bayern zu spielen - mit Leuten wie Zé Roberto. Das hat Klasse, Niveau und Phantasie. Wenn ich den Zé Roberto nach dem Training anschaue, dann wissen wir beide: Ja, das ist es! Von der fußballerischen Mentalität her bin ich Brasilianer.

Das ist die sportliche Seite. Doch das ganze Drumherum, das Sie so verabscheuen, ist in München so stark ausgeprägt wie bei keinem anderen Klub.

Vielleicht habe ich gerade das gewollt, vielleicht hilft mir dieser Gegensatz zwischen Kunst und Klamauk auf meinem Weg. Was auch immer passiert: Fußball ist mein Spiel, und niemand kann es kaputtmachen.

Sie haben wieder Spaß am Fußball.

Den hatte ich immer. Ich drücke mich über Fußball aus. Wenn ich spiele, gebe ich etwas von meiner Seele preis. Deswegen habe ich damals ja so gelitten, aber in gewisser Weise war die Geschichte mit Hertha auch sehr gut für mich, denn sie hat mir die Augen geöffnet. Durch sie bin ich wach geworden.

Wach wofür?

Ich will und werde mich auf dem Fußballplatz beweisen. Das ist ein inniges Bedürfnis. Wenn ich die Leute reden höre: Ach, der Deisler, der kann nichts tragen, der hält dem Druck nicht stand. Darüber lache ich innerlich. Ich habe schon bewiesen, dass ich dem Druck standhalte, dass ich Verantwortung tragen kann. Immerhin habe ich bei Hertha mit 21 Jahren die zentrale Rolle im Mittelfeld gespielt.

Deswegen hat Franz Beckenbauer Sie einmal das größte Talent des deutschen Fußballs genannt. Wann werden wir Sie wieder als Stammspieler sehen?

Ich wusste, dass meine Rehabilitation nicht reibungslos verlaufen würde. Das ist kein Wunder. Zuletzt hatte ich ein paar kleine Muskelverhärtungen, am Dienstag habe ich mir im Training eine Zerrung zugezogen. Das ist alles nichts Dramatisches nach der langen Zeit, in der ich nicht spielen konnte. Ich habe nie, wirklich nie, daran gezweifelt, dass ich wieder spielen werde.

Das Gespräch führten Sven Goldmann

und Michael Rosentritt.

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